Magna Mater - Roman
wahr sein.«
»Es ist die Wahrheit.«
Und dann erzählte ich ihm, wie ich unser Kind geboren und mit einem anderen Säugling vertauscht hatte.
»Und niemand weiß davon?«
»Nein.«
»Es ist zu …« Ihm fehlten die Worte.
Als er mich verließ, war er noch verwirrter als ich. Er hatte sich nicht einmal erkundigt, was aus dem Kind geworden war.
In der Nordwand befand sich die Bibliothek, verglichen mit der großen Bibliothek des Ordens nicht mehr als eine Bücherstube.
»Steht die Bibliothek auch mir zur Verfügung?« habe ich gefragt und zur Antwort erhalten: »Die Bücher gehören dem Orden. Wer könnte da gegen deinen Besuch etwas einzuwenden haben. Abelard wird dir behilflich sein.«
»Wer ist Abelard?«
»Das ist unser Bücherwurm.«
So suchte ich den Leseraum auf, um mehr über die Skarabäen in Erfahrung zu bringen.
»Wir haben hier nicht viele Schriften«, sagte Abelard, der, so blass und zahnlos wie er war, wirklich wie ein Wurm ausschaute. »Wofür interessierst du dich?«
»Für Religion. Gott ist klein.«
»›Gott ist klein‹, hat nichts mit Religion zu tun«, meinte er kopfschüttelnd. Er brachte mir ein paar Blätter, alle eingegossen in Korallin. Ich setzte mich auf eine Bank und las Sätze wie diese:
»Die Erde ist ein Planet der Mikroben. Milliarden Jahre lang wurde sie allein von Mikroben bewohnt, ohne dass die Winzlinge ihre Grundform verändert haben, während alle anderen Lebewesen sich ständig neuen ökologischen Nischen anpassen mussten. Sie verkörpern mit Abstand die erfolgreichste Lebensform. Neunzig Prozent der Biomasse auf der Erde bestehen aus Mikroben. Unser aller Leben liegt in ihren Händen.«
So oder ähnlich stand es in dem Buch, in dem ich blätterte. Eine Lobeshymne auf die Mikroorganismen.
»Glaubst du wirklich an diesen Unsinn: ›Gott ist klein‹?«, fragte ich Karras während eines kurzen Spazierganges am Abend.
»Das hat nichts mit glauben zu tun. Das ist eine unumstößliche Tatsache, eine naturwissenschaftliche Erkenntnis, zu der jeder gelangt, der mit offenen Augen durch die Welt geht.«
Er blieb bei einem Tamariskenstrauch stehen, zeigte auf eine Schnecke, die über unseren Köpfen auf einem Zweig hockte, und sagte: »Schau dir diese Bernsteinschnecke an. Sie verbringt ihr ganzes Leben am Boden. Frisst sie jedoch Vogelkot, der von bestimmten Parasiten befallen ist, so wird ihr Verhalten umfunktioniert. Sie klettert auf einen Baum. Ihre sonst so zarten Fühler schwellen an, bis sie so dick wie Raupen sind. Siehst du?«
Ich sah, wie sich die dicken Fühler bewegten, kringelnd wie freigegrabene Regenwürmer.
»In ihnen hocken die Parasiten und winken einen Vogel herbei, der die Fühler frisst. Die Schnecke stirbt als willenloses Opfer. Glaube mir, diese Winzlinge verfügen über Fähigkeiten wie die alten Götter. Wenn sie in der Lage sind, Gehirne so zu manipulieren, dass ihre Opfer zu willenlosen Werkzeugen werden, dann bestimmen sie vielleicht auch meine Gedanken und Handlungen.«
»Aber wir sind doch keine Schnecken«, widersprach ich.
»Betrachtet man die menschliche Geschichte, so wurden und werden alle wirklich entscheidenden Dinge von völlig unlogischen und oft unvernünftigen Triebkräften geformt. Kriege sind Fehlsteuerungen der Vernunft. Kann man diese Massenvernichtung von Menschen anders erklären als mit pathologischem Befall von Gehirnparasiten?«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf und setzte zu einem Einwand an, aber Karras ließ mich nicht zu Wort kommen. Er blieb mitten auf dem Weg stehen und erklärte mir mit lebhafter Gebärde seiner Hände: »Es ist kein Zufall, dass das Mittelalter in Europa mit der Pest endete. Mit ihr bereiten die göttlichen Parasiten den neuen Nährboden. Sie erzeugen in den Köpfen ein seltsames Fernweh und benutzen die Entdecker der neuen Welt als Transportmittel für die Spirillen der Syphilis und die Viren des Schnupfens.«
Meine ungläubigen Blicke ermunterten ihn zu weiteren Beispielen. »Sie errichteten mit Hilfe ihrer zweibeinigen Ameisen Dome und Kathedralen, in denen sich die Massen jenseits aller Vernunft leicht manipulieren ließen. Sie programmierten Gehirne für die Entwicklung von Autos, Flugzeugen, Atombomben. Mit Napoleon und Hitler planten sie weltweite Aderlasse, die zu neuen Ordnungen führten. Sie weckten in jungen Menschen solch schneckenhafte Todessehnsucht, dass sie sich Sprengstoffgürtel um die Leiber schnallten, um sich in Stücke reißen zu lassen. Vielleicht sind auch wir
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