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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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Es fehlt nur ein halber Meter. Vielleicht kann sie ja doch aufstehen, irgendwann muss sie es ja mal versuchen,
     das wird wohl zu schaffen sein. Vorsichtig, Stück für Stück, dreht sie sich auf den Bauch, lässt das rechte Bein aus dem Bett
     gleiten, bis ihre Zehen das Frotteetuch berühren, das immer über dem Teppich liegt. Sie greift nach der Nachttischkante, erst
     mit der rechten, unsicher, dann mit der linken Hand, aber die Kraft in den Armen reicht nicht, um sie zu stützen. Das Bein
     sackt weg, für einen Moment kniet sie auf dem Teppich, versucht vergeblich, sich am Nachttisch festzuklammern, und rutscht
     mit dem linken Bein von der Bettkante herab. Unsanft schlägt sie mit der Hüfteauf, hält sekundenlang den Atem an, wartet auf den scharfen Schmerz, doch diesmal scheint nichts passiert zu sein. Erleichtert
     atmet Wilhelmine auf, liegt mit klopfendem Herzen am Boden und schaut unter den Bettrahmen, wo sich ein paar zerknüllte Papiertaschentücher
     versteckt halten. Wenn nur Karin jetzt nicht kommt und sie so findet. Sie angelt nach der Wasserflasche und stellt sie in
     Griffweite neben das Bett. Nun muss sie bloß wieder hineinkommen, irgendwie. Wilhelmine zieht sich auf die Knie und greift
     zum Bett hinauf. Es ist hoch, das haben Albert und sie damals extra so ausgesucht und dabei an das Alter gedacht.
    Sie legt ihre Brust auf die Matratze und versucht, sich mit den Beinen hochzustemmen. Was ist nur aus ihr geworden, nachdem
     sie jahrzehntelang in den Rosenbeeten gekniet hat und aufgesprungen ist ohne jede Mühe?
    Unten schlägt die Kellertreppe zu. Himmel, Wilhelmine muss wieder ins Bett zurück, bevor Karin nach oben kommt! Mit aller
     Entschlossenheit stützt sie sich zwischen Nachttisch und Bett ab, zieht sich ein Stück weit hoch, ein Ellbogen ist bereits
     auf der Matratze, na also, es geht doch, auch wenn die Beine weich und haltlos sind. Wie Frankfurter Würstchen, denkt Wilhelmine.
     Sie zieht sich weiter nach oben, schon sind Karins Schritte auf der Treppe zu hören. Wilhelmine packt fester zu, eiserner
     Wille fährt in ihre Arme und Beine, sie zerrt sich am Laken höher, gleich ist es geschafft, gleich, bevor Karin kommt. Dann
     gibt das Laken nach, die Tür geht auf, Wilhelmine verliert den Halt und landet erneut auf dem Bettvorleger. Dieses Mal schickt
     der Schmerz ihr Tränen in die Augen.
    »Herrgott, Tante Minchen, was machst du denn da? Willst du dir jetzt auch noch die Beine brechen?«
    Wilhelmine schweigt, gelähmt von Karins Blick.
    »Tut dir was weh?« Kopfschüttelnd zieht Karin das Laken wieder zurecht und stopft es unter die Matratze. Dann greift sie Wilhelmine
     unter die Achseln und hievt sie aufs Bett zurück. »Was hast du denn da unten zu suchen gehabt?«
    »Ich hab nur nach der Wasserflasche sehen wollen …«
    »Also, Minchen, du bist doch nicht mehr ganz bei Trost. Wozu haben wir denn die Klingel? Oder willst du schon wieder ins Krankenhaus?«
    Wilhelmine schüttelt schwach den Kopf, deutet ein Lächeln an. Und sehnt sich zurück in die Tiefe.

Jelisaweta sieht an dem kleinen, spitzgiebeligen Haus empor. Es hat die gleiche fleckige Farbe wie die Schneeplacken, die
     unter ihren Sohlen knirschen. Hohe Tannen und ein paar Büsche grenzen das Grundstück wie eine Mauer zum Nachbarn ab.
    »Bis letzten Sommer hat sie den ganzen Garten allein besorgt.« Herr Hübner spricht leise und weist über die braunen Beete.
     Dornige Strünke ragen aus winzigen Erdhäufchen heraus wie aus Maulwurfshügeln. »Da drüben ist sie dann von der Leiter gestürzt.«
     Er bleibt stehen, zeigt mit dem Kopf zur Traufseite des Hauses.
    »Von Leiter?«
    »Ja.« Herr Hübner sieht auf den Boden, als müsse er nach Jelisawetas Tasche suchen, die er in der Hand trägt.»Sie wollte die Dachrinne saubermachen. Das muss man sich mal vorstellen! Mit einundneunzig!« Er stapft auf die Haustür zu.
     »Wir hätten es ihr verbieten sollen. Aber sie will ja immer alles selbst machen.« Herr Hübner setzt die Tasche ab und drückt
     dreimal auf den Klingelknopf aus angelaufenem Messing, der in die Hauswand eingelassen ist.
    Jelisaweta betrachtet das gravierte Schild, A. H. steht dort. Ein klopfender Takt dringt nach außen, jemand läuft eine Treppe
     hinunter. Eine Dame öffnet die Tür, Jelisaweta schätzt ihr Alter auf das ihrer eigenen Mutter, sechzig, vielleicht. Sie trägt
     kinnlanges, blond gefärbtes Haar, silberblond, ohne jeden Gelbstich. Lufthansa, nicht Aeroflot, denkt Jelisaweta und

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