Magnolienschlaf - Roman
zögert eine Weile, überwindet schließlich ihre Abscheu und zieht es hervor.
Die Puppe, die ein Baby haben wollte
, steht in kunterbunten Buchstaben darauf.
Verwirrt tastet Jelisaweta über den lackierten Einband und muss Atem schöpfen, bevor sie imstande ist, das Buch aufzuschlagen.
Und zum zweiten Mal in dieser Wochespürt sie jenes gruselige Unbehagen aus Kinderzeiten, das sie vergessen geglaubt hatte. Sie blättert zögernd die grün und
rot bedruckten Seiten um, beginnt in der Geschichte der armen kleinen Matrjoschka und ihrer Töchter zu lesen, die sie schon
tausend qualvolle Male gehört hat. Die Geschichte des bösen Puppenschnitzers Fritz. Jelisaweta überfliegt die ersten Seiten,
liest, wie der Puppenschnitzer in den Wald geht, um Holz für seine Puppen zu sammeln. Diesen Part kennt Jelisaweta nicht,
mit einer solchen Ouvertüre hat sich Babka nie aufgehalten, sondern ist gleich zur Sache gekommen. Dass der Puppenmacher ziemlich
gut dabei wegkommt, macht Jelisawetas Brust noch enger. Es sind ein paar hübsche Bilder dabei, auf denen man die niedliche
Puppe sehen kann, die er geschnitzt hat. Sie trägt ein rotes Kopftuch, eine gemusterte Schürze spannt sich über ihrem runden
Bauch. Sie lächelt.
Beim Anblick der haarigen, bloßen Beine des Puppenschnitzers schaudert es Jelisaweta. Als er sich nach dem Wohlbefinden seiner
Puppe erkundigt, antwortet sie: Mir geht es nicht gut, ich möchte ein Baby haben.
Etwas stimmt hier nicht. Das ist nicht Babkas Geschichte. Sie klemmt den Finger zwischen die Seiten und betrachtet die Rückseite
des Buchs, die aber nur Hinweise auf weitere Kinderbücher des Autors enthält. Warum um alles in der Welt lässt er die Puppe
so etwas sagen?
»Eins fünfzig!«, ruft der Junge von seinem Klappstuhl und sieht Jelisaweta fordernd an. Jelisaweta nickt abwesend, sucht,
ohne den Blick von den Buchstaben zu nehmen, nach Münzen in ihrer Hosentasche und lässt siein die ausgestreckte Hand des Buben gleiten. Wie eine Schlafwandlerin geht sie lesend bis zum Ende des Flohmarktes, lehnt
sich gegen einen hohen Maschendrahtzaun, der ihren Körper leise vor- und zurückfedern lässt. Die Puppe möchte ein Baby haben!
Und lässt sich freiwillig vom Puppenmacher den Bauch aufschneiden:
Es tut immer ein bisschen weh, eine richtige Mutter zu werden.
Nein, das ist nicht Babkas Geschichte. Das hier ist etwas vollkommen anderes. Es ist die Geschichte eines freundlichen Handwerkers,
den seine Puppe um ein Baby bittet, woraufhin der Puppenschnitzer ihr behutsam den Bauch aufschneidet und sie aushöhlt, um
das neu geschnitzte Baby hineinlegen zu können. Gebannt liest Jelisaweta weiter. Das Gleiche geschieht immer wieder, und nur
um keine der Puppen mehr aufschneiden und schließlich mit der Lupe arbeiten zu müssen, malt er der letzten und nur mehr fingerhutgroßen
Puppe einen Schnurrbart.
Jelisawetas Rücken rutscht am Maschendrahtzaun hinab, bis sie auf der staubigen, kalten Erde zu sitzen kommt. Sie schlägt
die Buchdeckel zu und starrt auf den bunten Einband. Nur für einen Moment übermannt sie der Impuls, das Buch von sich zu schleudern,
irgendwohin in die Menge der sonnenfreudigen Flohmarktbesucher. Doch im Grunde weiß sie, dass dies die richtige, die echte
Matrjoschka-Geschichte sein muss. Sie bleibt lange dort sitzen, starrt vor sich hin und immer wieder auf das schwarzbunte
Buch in ihren Händen. Wie in Trance macht sie sich auf den Weg zur S-Bahn-Station, fährt irgendwohin, vielleicht an den Main,
um dem Wasser beim Fließen zuzuschauen. Wird auf einer kleinen Treppesitzen, die in die steinerne Uferböschung eingelassen ist, und auf das glitzernde Schwarzweiß des Wassers blicken, bis es
blauschwarz wird und schließlich nur noch die gelblichen Lichter der Hochhäuser darin schwimmen.
Es ist spät, als Jelisaweta ankommt, sie spürt ihre Füße vor Kälte kaum. Die Leuchte über dem Eingang ist dunkel, nur durch
das Glas der Haustür dringt schwaches Licht.
Frau Hübner empfängt sie mit mürrischem Gesicht, Jelisaweta kann den Zorn dieser Frau beinahe körperlich spüren, doch sie
nickt bloß als Antwort auf deren Fragen, die sie nicht gehört hat, und geht an ihr vorbei. Später dann schlägt die Haustür
zu, es bleibt nur das Schaben der Messingkette, die am Holz hin- und herpendelt.
Jelisaweta löscht das Licht in der Küche, das Brummen der Neonleuchte erstirbt, einzig das Ticken der Küchenuhr erinnert daran,
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