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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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dass die Zeit weiterläuft, dass noch immer alles im Fluss ist.
    Irgendwann findet sie sich im Wohnzimmer wieder, zusammengekauert im dünnen Licht, das die Straßenlaterne durch das Blumenfenster
     schickt, und verliert sich in den Bildern, die wie ein Echo durch ihre Gedanken geistern. Alles fügt sich zusammen. Alles
     passt. Wie ein Mosaik. Jedes Steinchen, das sie ihrer Erinnerung entnimmt und hinzufügt, findet seinen entsetzlichen Platz.
     Seinen wirklichen Platz. Babka mit ihrem grauen Bürstenschnitt, in ihrer viel zu langen Männerjacke. Wie sie Jelisawetas Kinn
     genommen und ihr in die Augen gesehen hat. »Blaue Augen«, hat sie gesagt, »Jelisaweta soll sich schämen. Sie ist auch eine
     von ihnen.«
    Da ist die Frage nach ihrem Großvater, die nie gestellt werden durfte, so dass sich Jelisaweta wie eine Verbrecherin vorkam,
     als sie damals nach Staraja Mestnostsch gereist ist.
    Da ist die Vehemenz, mit der Mama gegen Bedrohungen kämpft, die überhaupt nicht da sind. Mama, die immer Angst hat und die
     in ihren ewig dunklen Anzügen aussieht, als arbeite sie nicht in einem Krankenhaus, sondern in einer Parteizentrale. Mama,
     die die unsinnigsten Regeln aufstellt und Dinge tut, die keiner versteht. Mama, das Kind mit dem Schnurrbart. Mama, das deutsche
     Kind.
     
    Mechanisch und vom Morgen betäubt, steht Jelisaweta auf und kleidet sich an, schlüpft in das Sweatshirt, das sie seit Jahren
     besitzt, in die Jeans, die sie mindestens ebenso lange trägt. Mit den Beinen, die ihr schon ein Leben lang gehören, steigt
     sie die Treppe hinunter, wie sie es seit Wochen tut, öffnet wie jeden Morgen die Terrassentür, um frische Luft ins Haus zu
     lassen, räumt im Vorbeigehen die Sofakissen an ihren Platz, wirft einen Blick aus dem leblosen Blumenfenster und fühlt, dass
     sie schwebt. Es ist keine Leichtigkeit, die sie anhebt, vielmehr ist der Boden schwerer geworden, gleichsam abgesackt. Um
     festen Schritt ringend, überquert sie vertrautes Terrain wie fremdes Land und ist sich mit einem Mal selbst eine Unbekannte
     geworden. Eine Fremde. Eine Deutsche.

Das Mädchen ist leise, heute morgen, kaum zu hören, jede ihrer Bewegungen scheint auf eine besondere Art gebremst, die nicht
     zu der so kompakten, stämmigen Russin passen will.
    Trotz ihrer Neugier zwingt sich Wilhelmine, den Kopf nur langsam zur Seite zu drehen, es nähme sie nicht wunder, wenn die
     andere durchsichtig geworden wäre, doch das Mädchen schaut aus wie immer. Erst als die Russin den Toilettenstuhl ans Bett
     rückt, sieht Wilhelmine deren verquollene Augen, sieht die blassen Lippen und dreht sich rasch wieder fort.

Energisch zerrt Jelisaweta die rollende Einkaufstasche hinter den Mülltonnen in der Garage hervor, das störrische Ding sträubt
     sich, und die Kapuze des Regencapes nimmt ihr die Sicht. Sie hat alle leeren Flaschen in den Trolley gepackt, doch noch immer
     erscheint ihr die Tasche zu leicht, am liebsten würde sie Steine hineinlegen, als könne das Gewicht der Tasche dasjenige auf
     ihrer Seele leichter machen.
    Obwohl der Regen nachlässt, ist außer Jelisaweta kein Mensch zu Fuß unterwegs, nur ein paar Autos rollen an ihr vorbei, für
     einen winzigen Moment bleiben die Spuren ihrer Reifen als Linien auf dem spiegelnassen Asphalt sichtbar. Erst vor dem Parkplatz
     begegnen ihr Menschen, Gesichter, Augen, blaue und braune und grüne, stürzen auf sie ein, deutsche Gesichter, und Jelisaweta
     muss sie anstarren, als hätte sie nie zuvor welche gesehen. Sie tauscht die leeren Colaflaschen gegen volle, zwingt sich,an die Alte zu denken, daran, was sie morgen essen wird, geht zwischen den Regalen hindurch, ohne die Waren zu sehen, sieht
     immer nur Gesichter. Was unterschiedet sie? Jelisaweta weiß es nicht. Schon damals, als sie den kleinen Friedrich bei sich
     hatte, hat sie sich gefragt, worin der Unterschied besteht. Ob man ihn sehen kann. Jetzt weiß sie, dass es keinen gibt, dass
     sie eine von ihnen ist. Mindestens einer ihrer Arme oder eines ihrer Beine ist genauso deutsch wie die Beine, die hier an
     ihr vorbeimarschieren. Und Mama? Bei Mama sind beide Beine deutsch. Etwas Schwarzes krampft sich in ihrem Bauch zusammen.
     Sie denkt an Babka, denkt an Mama, sieht den kleinen Friedrich und fragt sich, wie es sein muss, ein Kind zu haben, das nicht
     aus Liebe, sondern aus Hass entstanden ist. Ein fremdes Kind. Das Kind eines Feindes.
    Zwischen Gemüse und Käse bleibt sie unvermittelt stehen, starrt auf den

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