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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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     Später, haben sie gesagt, und nach dem Krieg haben sie gemeint. Später. Dabei hat Wilhelmine längst nicht mehr an ein Später
     geglaubt.
    Die Tränen drücken gegen ihre geschlossenen Lider. Mit dem Geschmack des Kakaos auf der Zunge packt die Erinnerung unbarmherzig
     zu.
    »He …«
    Wilhelmine spürt die Hand auf ihrem Arm.
    »Was haben Sie?«
    »Nimm das weg.« Sie wehrt mit der Hand den nächsten Bissen Zwieback ab. Sie hat nie wieder Schokolade getrunken seither, nein,
     das hat sie sich für alle Zeiten versagt.
    »Ach, aber Sie weinen nicht wegen Kakao?« Das Papiertuch tupft über ihre Augen.
    Auf dem großen Sofa haben sie gesessen, im Finstern, ohne Verdunklung, damit das Mondlicht ins Zimmer fällt. Ganz eng zusammengekauert
     haben sie sich, mit der gelbbraunen Wolldecke über den Knien, und Wilhelmine hat sie im Arm gehalten, das Gesicht in ihre
     Haare gedrückt und daran gerochen. Wie an einer Knospe, bevor sie sich öffnet. Wenn Hoffnung einen Geruch kennt, hat Wilhelmine
     gedacht, dann ist es der Duft der Kinder.
    Wilhelmine greift nach ihrer Hand, umschließt sie und atmet lange aus. Das Lächeln kostet alle Kraft. In ihr ist alles starr,
     wird jeden Tag ein bisschen starrer von der Mühe, die es macht, sich nicht gehenzulassen, nicht zu jammern, nicht die Wahrheit
     zu sagen, obwohl jeden Tag ein Stück Hoffnung stirbt. Nicht vor ihr. Erst spät, wenn sie eingeschlafen ist, wird Wilhelmine
     zusammenfallen wie jemand, dem man die Knochen herausgezogen hat. »Das machen wir alles später, Kind. Später«, wiederholt
     sie und streichelt die feste, warme Hand.

»Vergessen Sie nicht Tante am Sonntag. Bin ich nicht da.«
    »Wie bitte?« Frau Hübner schweigt einen Augenblick, es hört sich an, als hole sie Luft. »Ach, Lisa, das geht aber wirklich
     nicht, diese Woche. Wir sind eingeladen. Sie müssen wenigstens bis zum Nachmittag bei ihr bleiben.«
    Das könnte dir gefallen, denkt Jelisaweta und spürt, wie sich in ihrer Mitte etwas zusammenballt. Es ist genau wie in der
     Woche zuvor. Es wird Abend werden, bis Frau Hübner kommt, wenn sie überhaupt kommt. Aber dieses Mal wird Jelisaweta es nicht
     stillschweigend hinnehmen. Jetzt nicht mehr. Sie muss hier raus.
    »Nein«, gibt sie entschieden zurück, »ich gehe in Kirche am Sonntag.« Sie hat kaum je eine Kirche von innen gesehen und wird
     auch am Wochenende keine betreten, doch sie kann Frau Hübners Entschlossenheit beinahe durch das Telefon in sich zusammenfallen
     hören. An die Rechte von Göttern wagt nicht einmal eine Karin Hübner zu rühren.
    »Ich bringe für die Tante Frühstück, dann gehe ich.« Entschlossen legt Jelisaweta den Hörer auf. Sie wird sich auf kein Zugeständnis
     einlassen.
     
    Klamme Morgenkälte begleitet Jelisaweta auf dem Weg zum Bahnhof. Die S-Bahn ist beinahe leer. Noch bevor die ersten Hochhäuser
     in Sicht kommen, klart der Himmel auf und lässt Vorfrühlingssonne durch die Plastikfenster brennen. Schmutzig sehen sie aus,
     weil jemand unlesbare Botschaften hineingeritzt und mit Zigarettenglut Brandlöcher hineingesengt hat. Während erst Felder,
     dann Straßen und Schrebergärten und schließlich lückenloseHäuserreihen an ihr vorbeiziehen, versucht Jelisaweta auch die Gedanken an die alte Frau hinter sich zu lassen, doch sie hängen
     an ihr wie Körperteile, unsinnig, sie abschütteln zu wollen.
    An einem Bahnhofskiosk kauft Jelisaweta eine Brezel und läuft kauend durch die harten Morgenschatten bis zu dem lichten, staubigen
     Platz, auf dem schon von weitem die Tapeziertische mit den Kartons und Plastikklappboxen zu erkennen sind. Jelisaweta wirft
     einen Blick auf die Uhr, die besten Sachen haben schon in der Dämmerung den Besitzer gewechselt, doch ein kleines Radio wird
     sich finden lassen.
    Und zum ersten Mal in diesem Jahr nimmt sie die Sonnenbrille heraus und schlendert zwischen den Tischen umher, um hie und
     da einen Blick auf etwas zu werfen, das wie ein Radio aussieht. Nur dieses Licht, denkt Jelisaweta, macht alles so begehrenswert.
     Dieses grelle, Schatten schlagende Licht, das die Luft elektrisiert, noch ohne sie aufzuheizen.
    Bei einem Jungen, er mag halb so alt sein wie Jelisaweta selbst, entdeckt sie ein Radio. Er lässt mit sich handeln, weil weiße
     Farbspritzer daraufgekleckert sind.
    Dann sieht sie es. Es liegt halb verdeckt unter einem Plastikbeutel mit Spielzeugautos, zuerst fällt ihr nur die Matrjoschka
     auf dem Buchdeckel auf. Sie

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