Magyria 01 - Das Herz des Schattens
nichts, was ungesetzlich und verboten gewesen wäre. Über die Schwelle in eine fremde Wohnung zu gehen war etwas anderes, trotzdem verspürte sie nicht das innere Widerstreben, das
der Fahrstuhl in ihr ausgelöst hatte. Es kam ihr irgendwie richtig vor, hineinzugehen; womöglich ein Hinweis darauf, dass sie tatsächlich schon einmal hier gewesen war.
Ganz offensichtlich wohnte jemand hier, jemand, der nicht allzu ordentlich war, denn gleich im Flur stolperte sie fast über einen Schuh. Ein weißer Turnschuh, Größe dreiundvierzig. Der dazugehörige Schuh lag einen halben Meter entfernt.
Sie stellte das Paar zur Seite.
Jedenfalls wohnte hier ein Mann. Auf dem Foto waren die Schuhe des Jungen nicht zu sehen, aber zu seiner Kleidung hätten sie durchaus gepasst. Im Garderobenspiegel erblickte sie ihr eigenes, leicht gehetztes Gesicht. Eine Haarbürste lag auf dem Schränkchen. Erwartungsvoll untersuchte Hanna sie. Einige blonde Haare hatten sich darin verfangen. Sie lächelte, als sie ein Haar herauszog und es wie einen Schatz in der Hand hielt. Die Länge stimmte. Als hätte sie nicht bereits gewusst, wer hier wohnte.
Die Einrichtung war überraschend edel - vom matt glänzenden Parkett bis zu den cremefarbenen Wänden kam ihr alles noch eine Spur teurer vor als in der Villa der Szigethys. Die weiße Ledergarnitur im Wohnzimmer umringte einen ungewöhnlichen Holztisch, auf dem mehrere Zeitungen und Zeitschriften und ein vergilbtes Lesebuch für die erste Klasse lagen. Dazu ein aufgeschlagenes Heft mit Schreibübungen und ein Stift an einem Sofaende, als hätte dort jemand im Liegen geschrieben. Wieso musste er Buchstaben lernen? Nichts deutete darauf hin, dass außerdem ein Kind hier wohnte. Keine Spielsachen. Aber ein Pullover über der Sessellehne. Ein Flachbildschirm an der Wand. Der Kristallleuchter an der Decke wirkte dagegen etwas fehl am Platz.
Das Bett war nicht gemacht. Hanna setzte sich auf die Matratze und strich das Laken glatt. War sie mit ihm hier gewesen? Keine Bilder wollten zu ihr kommen, nicht die geringsten Bruchstücke einer Erinnerung.
Etwas Buntes. Es lugte unter dem Kopfkissen hervor, nur ein kleines Stück, doch sie erkannte es sofort. Ihr Schal. Kein Zweifel. Ihre Mutter hatte ihn gestrickt, aus flauschiger Wolle. Die Knäuel waren mehrfarbig, rot, blau und rosa meliert, sodass auch ohne Garnwechsel ein Muster entstand. Zum Nikolaustag hatte sie ihn bekommen, letztes Jahr.
Jetzt wusste Hanna, wo sie ihn verloren hatte.
Sie streckte die Hand aus und streichelte darüber, wie über ein kleines, kuscheliges Tier. Sie berührte das Kissen, auf dem sein Kopf geruht hatte. Eine Weile saß sie reglos da und wartete, dass etwas geschah. Dass die Erinnerung über sie kam mit der Gewalt einer Flutwelle.
Nichts.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie spät es war. Sie musste Attila von der Schule abholen und dazu durch die ganze Stadt fahren. Ganz schnell warf sie noch einen Blick ins Badezimmer. Eine Zahnbürste. Er wohnte hier tatsächlich allein. Wie kam ein so junger Mann an solch eine Wohnung? Reiche Eltern? Vielleicht war er Drogendealer oder so etwas?
An der Tür überlegte Hanna kurz, ob sie ihren Schal einfach mitnehmen sollte. Immerhin war es ein Geschenk ihrer Mutter. Außerdem hatte dieser Kerl es nicht für nötig gehalten, sie anzurufen. Immerhin war heute schon Dienstag. Er hätte sich ruhig melden können. Selbst wenn sie nur ein Abenteuer für ihn gewesen war, warum bewahrte er dann ihren Schal unter seinem Kopfkissen auf? Und woher kam dann dieses Gefühl, dass sie hier kein Eindringling war?
Am liebsten wäre sie hiergeblieben und hätte auf ihn gewartet. Sie konnte nicht verschwinden, ohne irgendetwas mitzunehmen, nur eine Kleinigkeit …
Zeit zu gehen. Sie schloss die Tür leise hinter sich. Am Treppenhaus zögerte sie, und wandte sich wieder dem Fahrstuhl zu, der immer noch hier oben auf sie wartete.
Sie überwand ihren inneren Widerwillen und stieg ein. Der Lift setzte sich in Bewegung, draußen glitten die hellblauen Wohnungen an ihr vorbei. Mit einem kleinen Ruck hielt er.
Mattim.
Der Name kam von irgendwoher, während sie auf die gegenüberliegende Ecke starrte, als würde dort jemand sitzen. Mattim.
Mattimattimattimattim.
Da drüben hatte er gesessen. Er blickte zu ihr hoch, sein Lächeln wirkte gequält. Seine Hände bluteten. Sie reichte ihm den Schal, spürte zum letzten Mal die weiche Wolle zwischen den Fingern.
Ich bin Mattim, der letzte Prinz des
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