Magyria 01 - Das Herz des Schattens
damit quasi einzuladen.
Es war ihr durchaus recht, und eigentlich wollte sie am liebsten umkehren. Auch ohne den Gedanken an Vampire - ein Gedanke, dem immer noch etwas Lächerliches anhaftete - wäre ihr nicht wohl gewesen, einfach so ein fremdes Haus zu betreten. Wenn bloß nicht dieses Gefühl gewesen wäre, dass diese Tür offen sein müsste …
Der Briefträger schob sein Wägelchen vor sich her. Nur ein paar Häuser entfernt. Der Mann hatte bestimmt einen Schlüssel … Sie drückte sich in der Nähe herum, damit es nicht allzu sehr danach aussah, als würde sie auf ihn warten. Sobald er den Schlüssel ins Schloss steckte, war sie hinter ihm und hielt ihm höflich die Tür auf. Er nickte ihr zu, und zu ihrer großen Erleichterung fragte er sie nicht, ob sie hier wohnte, sondern ging zielstrebig zu den Briefkästen an der Wand.
Es war still. Für ein Mehrfamilienhaus war es geradezu unnatürlich ruhig. Hanna wagte einen Blick in den Innenhof. Ein Brunnenbecken, von steinern grinsenden Löwen bewacht. Sonst nichts. Nicht einmal, und das fand sie dann doch etwas ungewöhnlich, das übliche Gerümpel. Keine alten Backöfen und Fahrräder, wie man es in dieser Gegend hätte erwarten können, sondern so gepflegt, als würden hier nur pingelige Deutsche wohnen. Außerdem ein gläserner Fahrstuhlschacht bis ganz nach oben.
Wieder ging sie ihre Fotos durch. Das konnte er sein, der Lift, den sie so oft fotografiert hatte. Um sicher zu sein, musste sie ihn betreten. Sie wandte sich zur Seite, wo man sich zwischen Treppenhaus und Fahrstuhl entscheiden konnte, und traf ihre Wahl. Sie drückte den Knopf. Der Fahrstuhl ließ nicht lange auf sich warten, leise rumpelnd hörte sie ihn herankommen. Die Tür faltete sich auf. Die hintere Wand war aus Glas.
Sie hob schon den Fuß zum ersten Schritt, aber sie konnte nicht. Irgendetwas lähmte sie, ein Widerstand, der sich in ihrem ganzen Körper aufbaute. Tausend Alarmglocken schienen gleichzeitig loszuschrillen. Nein. Nein, nein, nein!
Sie blickte in den offenen Raum. Die Knöpfe, die Schrift dort … Alles war so vertraut. Sie war in diesem Haus gewesen, zweifellos. In diesem Fahrstuhl. Hier war es geschehen. Hier hatte sie diesen blonden Jungen fotografiert.
Es war nur ein Schritt. Einen Moment lang fühlte sie sich, als würde es ihr den Boden unter den Füßen wegreißen, als wäre sie nicht in den Aufzug gestiegen, sondern auf die unterste Stufe einer Rolltreppe. Sie schwankte, das Herz schlug ihr bis zum Hals - aber nichts geschah. Bloß die Stille wurde ihr wieder bewusst.
Durch die Scheibe spähte Hanna in den Hof hinunter und auf die einheitlich gestrichenen Stockwerke. Die hellblau getünchten Wände mit den weißen Türen und Fenstern.
Die filigranen schmiedeeisernen Gitter, die jede Etage einrahmten. Keine abgeblätterte Farbe, kein bröckelnder Putz, kein Schmutz. Wer hier wohl wohnte?
Die Tafel mit den Knöpfen. Sie drückte die Fünf, und mit leichtem Surren glitt der Fahrstuhl nach oben. Es fühlte sich beinahe normal an, hier drin zu sein. Fast so, als würde nicht gleich etwas Schreckliches geschehen … Was sollte schon passieren, am helllichten Tag, noch dazu in einem Haus, in dem so viele Leute wohnten? Sie sah auf die Uhr. Ein bisschen Zeit hatte sie noch. Oben stieg sie aus und blickte sich um. Eine der weißen Türen sprang ihr sofort ins Auge. Gleich würde sie sich öffnen, gleich würde jemand herauskommen und sich neben sie stellen, um mit ihr auf den Aufzug zu warten … Hanna rieb sich die Augen. Stille. Von irgendwoher ein Hämmern. Das musste die Baustelle sein. Hier im Haus war alles ruhig.
Sie trat auf die Tür zu. Kein Namensschild, keine Klingel. Sie überlegte, ob sie klopfen sollte, entschied sich jedoch dagegen, denn was hätte sie sagen sollen, wenn jemand öffnete? Andererseits - vielleicht war sie genau in dieser Wohnung gewesen. Irgendetwas zog sie zu dieser Tür. Wenn sie einen Blick hineinwarf, würde sie bestimmt wissen, ob sie hier gewesen war. Vielleicht mit ihm, dem Blondschopf.
Junge, Junge, das muss eine Nacht gewesen sein …
Sie versuchte durch die gläsernen Kassetten zu spähen. Ein Flur, eine weitere Tür? Es reichte ihr nicht. Entschlossen hob sie die Hand und berührte den Knauf.
Die weiße Tür schwang auf und gab den Blick ins Innere der Wohnung frei. Seltsam, dass hier nicht abgeschlossen war, aber sie hatte das starke Gefühl, dass es genau so sein musste.
Bis jetzt hatte sie nichts Schlimmes getan,
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