Magyria 01 - Das Herz des Schattens
wenn dir mein Sohn wirklich etwas bedeutet …«
»Alles«, flüsterte Mirita. Sie konnte nicht anders. »Dann rette ihm das Leben. Rette Akink. Rette das Licht. Er muss gehorchen, ganz gleich, ob er es einsieht oder nicht. Er muss. Rede mit ihm. Halte ihn fest. Bring ihn zur Vernunft. Er hat dem großen Wolf den Rücken zugedreht, um dich zu beschützen. Du bist wahrscheinlich die Einzige überhaupt, auf die er hört.«
»Dafür wird er mich hassen«, murmelte sie.
»Mein Licht verblasst allmählich«, fuhr die Königin fort. »Ich werde nie wieder einem Kind das Leben schenken. Meine Zeit ist um. Und wir brauchen dringend Lichtkinder. Vielleicht werden irgendwann deine Söhne und Töchter den hellen Tag nach Akink zurückbringen.«
»Was?«
»Ich meine es ernst.« Elira nickte dem Mädchen gütig
zu. »Wenn es dir gelingt, Mattim zur Vernunft zu bringen … Wie alt bist du?«
»Sechzehn.«
»Ein Jahr jünger als er. Das ist gar nicht mal so verkehrt. Jedenfalls alt genug.«
Mirita konnte immer noch nicht glauben, was die Königin ihr da versprochen hatte.
»Ihr meint …?«
»Rette ihn«, wiederholte Elira. »Erweise dich als seine Seelengefährtin. Werde seine Lichtprinzessin.« Sie lächelte über den staunenden, ungläubigen Ausdruck in den Augen der jungen Bogenschützin. »Ihr beide könntet diese Stadt wieder mit Licht und Leben füllen. Zuerst musst du ihn jedoch retten. Vor sich selbst.«
Mattim lag in seinem Bett und drückte das Gesicht ins seidene Kissen, bis er keine Luft mehr bekam und sich auf den Rücken warf. Das war ein Fehler; die Kratzer, die der Wolf ihm zugefügt hatte, schmerzten so stark, dass er sich lieber auf die Seite drehte.
Es hatte wehgetan, sich auszuziehen. Die Kleidung klebte an seinem Rücken fest, und als er sie ungeduldig herunterriss, schnappte er vor Schmerz nach Luft. Blutspuren an seinem Hemd verrieten ihm, dass der Wolf ihn schlimmer erwischt hatte, als er angenommen hatte. Er verrenkte den Kopf, um die Striemen zu betrachten, und stellte sich schließlich nackt vor den großen Ankleidespiegel, der an der Wand lehnte.
Die Spuren der Krallen waren deutlich zu erkennen, vier rote Streifen unter dem rechten Schulterblatt, vier auf dem linken. Er erschrak, als er die Verletzungen auf seiner hellen Haut sah. Nie war ihm so deutlich gewesen wie in diesem Augenblick, wie viel Glück er gehabt hatte. Der Wolf hatte ihn zu Boden gerissen, er hatte die Zähne schon an seinem Hals … und hatte gezögert, lange genug. Zu lange
für eine wilde Bestie, die ihn zerreißen wollte. So vorsichtig wie nur möglich streifte er sich das Nachtgewand über.
»Mattim?«
Die Königin kam herein und setzte sich auf die Bettkante. Schon sehr lange hatte sie das nicht mehr getan. Er spürte ihre Hand an seiner Schulter. Sanft streichelte sie seinen Rücken über dem dünnen Stoff. Mattim biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Tränen traten ihm in die Augen, während er sich darum bemühte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen.
»Vor langer Zeit«, sagte Elira, und es klang wie der Beginn einer der Geschichten, die er früher so geliebt hatte, »als Magyria noch voller Zauber war, das Land der Magie … pflegten die Menschen hin und wieder die Grenzen von Traum und Wirklichkeit zu überschreiten. Sie setzten den Fuß in jenes andere Land, das nur einen Lidschlag von unserem entfernt ist, und besuchten dort die Schläfer. Sie kamen zu ihnen als Wölfe, schlichen sich in ihre Träume und sangen sie in den Schlaf …«
»Als Wölfe?«
Wenn jemand das Wort aussprach oder wenn er selbst es sagte, wenn er es nur dachte, durchfuhr es ihn wie ein kalter Schauer. Trotzdem konnte er nicht anders, als es zu denken und zu sagen. »Wölfe?« Sein Rücken fühlte sich an, als hinge dort immer noch ein Wolf. Er musste nur die Augen öffnen und den Kopf drehen, und dort würde das Tier sein und ihn anblicken mit runden Augen.
Aber neben ihm saß nur seine Mutter und nickte ihm liebevoll zu.
»Sie kamen zu ihnen als graue Schatten und …«
»Kein Wort mehr.«
Der König selbst stand an der Tür. Sein Gesicht war grau und müde, doch in seinen Augen lag ein unerbittlicher Glanz. »Kein Wort mehr davon.«
»Es ist nur eine Geschichte«, erwiderte Elira beschwichtigend.
Farank trat zu ihnen und sah auf Mattim herab. »Kein Wort mehr«, entschied er, »nie. Nichts über Wölfe. Verstehst du mich, Elira?«
»Ja«, sagte die Königin und senkte den Kopf.
Der König fasste sie
Weitere Kostenlose Bücher