Magyria 01 - Das Herz des Schattens
irgendetwas davon muss noch da sein. Wie konntest du ihn damals finden, als er dich in die Falle gelockt hat? Nur weil Atschorek bei ihm war. Dass sie dich ein einziges Mal gebissen hatte, reichte aus. Das wird es diesmal auch. Und wenn es nur der tausendste Teil eines Tropfens ist … Konzentrier dich. Denk an ihn. Wo würdest du ihn suchen? Wo zieht es dich hin?«
Nichts zog sie zu Kunun. Nur zu Mattim. Zu ihrem Mattim, den sie verlieren würde. Er würde sich den Schatten in den Weg stellen und sich opfern, für nichts, und sie würde ihn verlieren. Heute.
»Wo ist er?«, fragte der Prinz und ließ ihre Hände los.
Es konnte nicht funktionieren. Kunun hatte das Band längst wieder durchtrennt. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er auf der großen Wiese auf der Òbuda-Insel parkte und sich an Réka wandte. Ich hab dir etwas zum Geburtstag mitgebracht … Oder wie er sie durch das Gittertor von Atschoreks Garten führte. Ich muss dir etwas zeigen … Oder in sein Haus … Es gab so unendlich viele Orte, an denen er sie hingebracht haben konnte, weitaus mehr als diese drei. Wo zog es Hanna hin? Wo würde sie zuerst suchen?
Ihr Schädel fühlte sich an wie ein schwerer Stein, dumpf vor Angst und Schmerz.
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht …«
»Dann fahren wir zum Baross«, sagte Mattim. »Komm.«
Nach ein paar Schritten krallte sie sich in seinen Arm. »Nein! Nein, das ist die falsche Richtung!«
Ein schwerer Holztisch. Dort würden die Vampire sitzen und aus blutgefüllten Bechern trinken …
»Zu Atschorek«, sagte sie. »Lass uns zu ihrem Haus fahren.«
»Bist du sicher?« Mattim sah seine Freundin an.
Sie wusste genau, was ihre Antwort für ihn bedeutete. Wenn Réka nicht in Kununs Haus war, konnte er es vielleicht doch noch schaffen, durch die Pforte nach Magyria zu gelangen. Seine Mutter zu rufen. Den Durchgang zu schließen, bevor die Schatten bereit waren, hindurchzugehen.
»Wir trennen uns«, sagte sie. »Du machst dich auf den Weg nach Akink. Ich suche Réka.« Noch während sie das vorschlug, fühlte sie, wie die Verzweiflung über ihr zusammenschlug. Sie hatte keine Chance, das Mädchen zu befreien, wenn Mattim nicht bei ihr war. Er wusste das. So wie er auch wusste, was sie dachte. Er sah sie an, schüttelte den Kopf und lachte leise und traurig.
»Réka oder Akink«, sagte er. »Wird das immer die Wahl sein, vor der wir stehen? Ohne sie wird mein Bruder nicht über den Fluss kommen. Hanna, glaubst du wirklich, ich gehe nach Magyria und lasse euch im Stich? Glaubst du, es wäre ein Sieg für mich, die Pforte schließen zu lassen, während die Schatten alle hier sind und Réka stirbt? Ich habe nur den Hauch einer Chance, dass es mir gelingt, noch einmal mit der Königin zu sprechen. Und wir haben nur eine winzige Chance, Réka rechtzeitig zu finden. Weißt du denn immer noch nicht, was mir am allerwichtigsten ist?«
»Das Licht«, flüsterte sie.
»Ja«, sagte Mattim. »Und das Licht ist dafür da, für die Unschuldigen zu kämpfen. Wir fahren zu Atschoreks Haus. Komm. Jede Sekunde, die wir hier vertrödeln, wird uns später leidtun.«
Sie riefen ein Taxi. Während der Fahrt lehnte Hanna die Stirn gegen die kühle Scheibe. Die Straßen zogen an ihr vorbei. Eine Stadt wie aus einem Traum. Réka. Réka …
Sie stiegen ein bisschen früher aus. Hanna bezahlte den Fahrer und fragte sich, ob man es ihr ansah. Ob ihr anzumerken war, dass ihr Gesicht nur eine Maske war und dahinter nichts als Angst …
Mattim führte sie rasch die Straße hinauf, an den Nachbargrundstücken vorbei. Es war zu hell, um durch das Tor oder die Hecke zu steigen, erbarmungslos machte das Tageslicht jede Möglichkeit zunichte, heimlich einzudringen. Alles war still, das Haus, der Garten, alles, was man von hier aus erkennen konnte.
Der Prinz legte die Hand ans Tor. »Es ist nicht abgeschlossen.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Sie gingen den Gartenweg hoch zum Haus. Es war zu still, fand Hanna. Viel zu still. Hätten nicht alle Schatten hier versammelt sein müssen, wenn sie darauf warteten, dass sie das geopferte Blut zu trinken bekamen? Es war das falsche Haus. Das falsche …
»Lass uns umkehren«, sagte sie spontan. Sie sagte es und ging trotzdem weiter, direkt auf das Haus zu, und zögerte vor den Stufen hinauf zum Eingang. Vielleicht konnte man durch die Fenster etwas sehen?
»Ungebetene Gäste sind stets die besten«, sagte Atschorek. Sie stand an der Haustür und lächelte ihnen
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