Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Augen, nein, nicht mehr die Porzellanfrau. Oder doch – auf einmal die Zerbrechlichste von allen.
»Er ist unser König«, sagte sie leise. »Die wichtigste Figur in diesem Spiel.« Dann fragte sie: »Was soll ich tun?«
»Ihn retten!«, rief Réka wild dazwischen. »Verdammt noch mal, redet nicht so viel, tut endlich was!«
»Das ist deine Aufgabe, Mattim«, sagte Atschorek. »Jetzt ist deine Stunde gekommen. Geh und begleiche deine Schuld. Bist du der edle Held oder nicht? Geh und rette deinen Bruder.«
Er merkte plötzlich, dass alle ihn anstarrten. Nein, noch nie hatte Réka ihn so angeschaut, so eindringlich und wütend. Mattim drehte sich um und begegnete Hannas Blick. Dort fand er sich wieder, dort würde er sich immer wiederfinden. Prinz des Lichts.
Er musste nichts sagen. In seinem Gesicht war zu lesen, was er tun würde.
»Du lässt deinen Bruder im Stich?«, giftete Réka. »Du gibst ihn einfach auf? Oh, verflucht! Was seid ihr nur für Feiglinge!«
»Kann nicht endlich jemand dieses Kind hier entfernen!«, rief Atschorek gereizt.
»Komm, Réka.« Hanna packte den Arm des Mädchens. »Wir fahren nach Hause. Das ist nicht unsere Angelegenheit. Komm.«
Die Fünfzehnjährige wehrte sich noch kurz, dann warf sie einen Blick in die Runde, auf die reglos dastehenden Vampire, seufzte laut und fügte sich.
»So«, sagte Atschorek, als die beiden Mädchen das Labyrinth verlassen hatten, »endlich Ruhe.« Sie musterte die anderen. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, in die Burg zu gelangen und ihn dort herauszuholen, ohne dass jemand unser Kommen bemerkt.«
Einer der Schatten schüttelte den Kopf. »Prinzessin, niemand von uns geht so leicht durch Mauern – so wie er.«
Mattim wollte nichts mehr hören. Er hatte hier schon viel zu viel Zeit verloren. Immer noch irrte ein todbringender Wolf durch die Straßen von Budapest. Wenn er Wilder retten wollte, musste er sich beeilen. Er wandte sich dem Ausgang zu.
»Das kannst du nicht machen!«, rief seine Schwester ihm nach. »Bleib hier! Zeigst du nun dein wahres Gesicht? Erst lässt du dich retten, und dann verschwindest du?«
»Mein wahres Gesicht?« Mattim drehte sich noch einmal zu ihr um. »Du kennst es schon lange. Von Anfang an hattest du recht, Schwester. Alle meine Kniefälle waren nichts als Täuschungsmanöver. Kunun ist nicht mein König. Ich diene dem Licht. Sieh zu, wie du damit fertig wirst.«
Doch als er nach oben stieg, versagten ihm fast die Beine, und er musste sich mit den Händen an den glatten Steinstufen abstützen.
Kunun ist nicht mein König. Aber mein Bruder. Mein Bruder!
» Wilder auch«, flüsterte er.
VIERUNDZWANZIG
Budapest, Ungarn
Hanna hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass ihre Gastmutter böse auf sie war. Die Ereignisse überschlugen sich und rissen den Alltag wie in einer Sturzflut mit sich. Alle ihre Gedanken kreisten um Akink, die Wölfe, Kununs Schicksal, Mattims Entscheidungen … dass sie selbst nur ein Au-pair-Mädchen war und auf Zeit hier, war ihr gar nicht mehr präsent. Deshalb war sie überrascht, Mónika zu Hause anzutreffen, Mónika, die stirnrunzelnd sagte: »Ach, wieder da? Ich dachte schon, du wärst auf dem Weg zum Flughafen.«
»Hanna bleibt hier«, knurrte Réka.
»Ich glaube nicht, dass du darüber zu bestimmen hast.«
Das Mädchen, das eben noch verzweifelt weinend auf dem Beifahrersitz gekauert hatte, richtete sich zu voller Größe auf.
»Nur über meine Leiche.« Sie rauschte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. »Kommst du, Hanna? Wir haben etwas Wichtiges zu bereden.«
Mónika seufzte.
»Wenn Sie wirklich wollen, dass ich gehe, dann tue ich das natürlich«, sagte Hanna. Sie konnte einen anderen Weg finden, um in Mattims Nähe zu bleiben. Obwohl sie Attila sehr vermissen würde. Und Réka natürlich. Und auch ihre Gastmutter, ja, sogar die, obwohl sie immer noch mit ihrem Zorn kämpfte.
»Fühlst du dich hier wohl?«, fragte Mónika. »Ist das hier das Richtige für dich?«
»Ihr seid meine zweite Familie«, sagte Hanna ehrlich.
»Nun gut.« Wenn die Ungarin lächelte, war sie so schön wie – nein, nicht wie Atschorek. Aber man konnte nicht anders, als sie zu mögen. »Dann lauf ihr schon nach. Wenn sie ausnahmsweise mal bereit zum Reden ist.«
Réka saß auf ihrem Bett, die Knie angezogen. Ihre Augen glänzten fiebrig.
»Alles«, sagte sie. »Erzähl mir alles. Über die Schatten. Über diese komische Stadt. Über Kunun. Ich will alles wissen.«
Als Hanna zögerte, fügte
Weitere Kostenlose Bücher