Magyria 02 - Die Seele des Schattens
zusammen und holte sie ein. Als sie die Akinkerin am Arm packte, stieß diese einen Schrei aus. Ihre Augen weiteten sich, und Hanna sah das Entsetzen darin so deutlich, als blickte sie durch ein Fenster auf ein namenloses Grauen.
»Du hast geschworen, sie würden gehen!«, stieß die Königin hervor. »Und sie sind gegangen … jeder Fußbreit, den sie die Brücke freimachten, ein Sieg für uns … Doch dann kam die Flut. Eine wilde graue Flut. Es sah aus, als wäre ein Damm gebrochen. Das Licht ist verloren. Verloren!«
»Nein, oh bitte, Königin Elira, reißen Sie sich zusammen! Hören Sie mir zu – wo ist Réka?«
Die Königin musste die Verhandlungen aus der Nähe verfolgt haben und hatte sich dann wohl beim Ansturm der Schatten und Wölfe irgendwo versteckt. Nur so war zu erklären, dass sie sich hier befand statt sicher in der Burg. Hier, allein in einer Stadt, wo an allen Ecken und Enden der Kampf tobte.
»Réka?«, fragte Elira verständnislos.
»Das Mädchen! Das Schattenmädchen!«
Die Königin starrte Hanna an. »In der Burg«, antwortete sie schließlich. »Oben in der Burg. Dort muss ich hin. Wir haben noch eine Geisel, ihr werdet uns gehen lassen müssen.«
»Réka wird niemanden mehr schützen!«, rief Hanna. Sie dämpfte ihre Stimme; noch waren sie allein in dieser kleinen Seitengasse. »Ich muss sie nach Hause bringen, Mattim war bereit, alles für sie zu tun – doch jetzt …« Nein, sie würde Eliras Schmerz nicht vergrößern, indem sie ihr verriet, dass Mattim sich zum zweiten Mal verwandelt hatte. »Es hätte gelingen können! Beinahe wäre es das, und das Licht wäre gerettet gewesen! Nun ist Kunun wieder am Zuge. Die Geisel wird Ihnen nichts helfen. Sie müssen sofort die Stadt verlassen!«
Die Königin blickte das Mädchen traurig an, sie wirkte wie ein verlorenes Kind, nicht wie eine mächtige Herrscherin. »Farank ist in der Burg.«
»Sie können ihm nicht helfen«, sagte Hanna. Wann begriff sie es endlich? »Mattim ist auf dem Weg in die Burg, er ist der Einzige, der noch etwas tun kann. Kommen Sie, bitte, Sie müssen fliehen!«
Sie hatte keine Zeit. Sie wollte die Königin am liebsten stehen lassen und weiterrennen und rufen: Réka! Wo bist du? Aber sie würde so oder so zu spät kommen. Mattim war unterwegs, darauf musste sie vertrauen. Sie selbst hatte nun eine andere Aufgabe: sich um seine Mutter zu kümmern.
»Ich werde Sie nicht allein hier zurücklassen«, sagte Hanna bestimmt. »Sie verlassen sofort diese Stadt. Ich würde Sie nach Budapest bringen, aber ich komme nicht allein durch die Pforten … und auch drüben in meiner Welt wären Sie nicht sicher. Der Fluss! Sie müssen auf den Fluss, dorthin kann keiner der Schatten Ihnen folgen!«
»Ich will zurück«, stöhnte Elira, »zu Farank.«
»Um mit ihm zu sterben? Sie dürfen nicht zurück in die Burg! Dort werden die Schatten keinen Stein auf dem anderen lassen, dort wird Kunun als Erstes hingehen.« Sie packte die Königin am Handgelenk und zog sie hinter sich her; wie gut, dass sie wusste, wo der Hafen lag.
Hinter ihnen schlug das Geschrei Wellen, hinter sich hörten sie, wie die Wölfe ihr Werk begannen. Die Königin. Das war alles, was jetzt noch zählte. Hanna hoffte nur, dass die Schatten sich zuerst die Burg vornahmen und vergaßen, den Hafen zu sichern. Zum Denken blieb keine Zeit, auch nicht, um sich zu fragen, warum das hier geschehen war. Keine Zeit, sich an Mattims Gesicht zu erinnern und an seine Stimme. An seine Umarmungen, seine Küsse …
Die Königin weinte. Sie wehrte sich nicht mehr, sie lief an Hannas Hand wie ein kleines Mädchen, Tränen benetzten ihre Wangen. Keine Vorwürfe kamen über ihre Lippen, keine Anklagen: Du hast uns gesagt, wir hätten Zeit! Eine ganze Stadt haben wir auf dich gesetzt und verloren!
Dunkle Gestalten versperrten den Ausgang aus der Gasse. Waren es Menschen, waren es Schatten? Hanna kannte sie nicht, aber ihre Blicke verhießen nichts Gutes.
»Aus dem Weg!«, rief sie. »Platz da!«
Eine Frau, eine blutige Zeichnung am Hals, trat näher und streckte die Hände aus. »Du gehörst noch nicht zu uns. Ich fühle das Leben in dir. Und die da auch nicht.«
»Aus dem Weg«, wiederholte Hanna. Sie hatte nichts, um sich zu wehren, keine Waffe, kein Feuer, nichts, was man gegen Schatten benutzen konnte. »Ich bin die Gefährtin des Prinzen.« Sie legte ihren ganzen Zorn in diese Worte, ihre ganze Verzweiflung, und auf ihrer Zunge verwandelte sich der Schmerz in
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