Magyria 02 - Die Seele des Schattens
anscheinend nichts wert. Wir haben uns getäuscht. In allem. Ich habe so sehr an Mattim geglaubt … und nun ist alles verloren.«
»Nicht näher kommen!«, heulte Réka auf, aber er schien sie gar nicht zu hören. Der Schmerz nahm ihr die Sicht, alles war auf einmal so hell, dass sie glaubte, blind zu werden. Gleich würde die Welt in Flammen aufgehen und sich in nichts auflösen …
Dann hörte sie den König auf einmal rufen: »Nein! Bleib weg! Bleib weg!«
Und ein Knurren. Mühsam öffnete sie die tränenden Augen und sah den roten Wolf, Wilder, zähnefletschend und mit gesträubtem Fell. Mehrere Soldaten hatten ihn bis in den Raum verfolgt und versuchten ihn in eine Ecke zu drängen, doch er befand sich zwischen ihnen und dem König; mit jedem Schritt, den sie auf das Tier zugingen, trieben sie es nur noch mehr auf ihren Herrn zu.
»Oh, beim Licht!«, rief Farank aus. »Nehmt ihn von mir weg!«
Der Wolf zuckte mit den Ohren und fixierte den Mann im Königsgewand mit seinen runden, glänzenden Augen, Augen wie aus Bronze, flammend … Der Monarch bewegte sich dicht an der Wand entlang, als wollte er sich wie ein Schatten durch die Mauer drücken. »Vorsicht«, warnte er seine Männer, »reizt ihn nicht zu sehr.«
Réka schrie laut, als einer der Wächter seine Lanze hob. »Pass auf, Wilder!«
Der Wolf tauchte unter der Waffe hindurch, sprang den vordersten Soldaten an, schnappte kurz nach seinem Bein und raste dann um den Käfig herum.
Der Gebissene stand da wie erstarrt, während die anderen vor ihm zurückwichen. Schon war Wilder wieder da und fuhr mitten zwischen sie.
»Vorsicht!«, warnte Réka, denn ein anderer Wachmann hatte sich von seinem Schrecken erholt und hieb mit dem Schwert gegen das Tier. Wilder rettete sich mit einem Sprung hinter den Käfig, doch die Wächter teilten sich auf und kamen nun von beiden Seiten auf ihn zu. Nur der Verwandelte stand immer noch an der Schwelle und betrachtete ungläubig die blutige Wunde an seinem Bein. Der König wagte nicht, an ihm vorbei aus dem Raum zu flüchten, und zog sich wieder ans Fenster zurück. Réka fühlte seine Gegenwart wie einen Schmerz, dem sie nicht entkommen konnte. Sie schloss die Augen vor dem blendenden Licht.
Der Alte hatte den schwarzhaarigen jungen Mann schon einmal gesehen. Er kam die Schlosstreppe heraufgesprungen, als sei er hier zu Hause. An diesem merkwürdigen Tag rannten überall Leute herum, in den Gängen, in den Zimmern, auch solche, die hier nicht hingehörten. Aber der Dunkelhaarige wohnte hier. Der alte Diener war sich sicher. Allerdings stimmte etwas nicht mit dem Gesicht dieses Burgbewohners. Die Narben. Da waren zu viele Narben, klaffende, blutige Schnitte.
Ein Krieger. Kam er aus der Schlacht?
War er nicht ein Bild gewesen? Ein Bild, lebendig geworden, wie so vieles in der Nacht erwacht zu sein schien? Der Alte hatte geträumt, von Schreien und Hörnern, von Wölfen und Prinzen. Etwas stimmte nicht. Das altvertraute Gefühl hatte ihn aus dem Bett getrieben, durch die stillen Flure der Burg, in denen das Fußgetrappel nach und nach verstummte.
»Ich bin Prinz Kunun«, sagte der Besucher höflich. »Ich nehme an, der König ist oben in seinem Gemach?«
»Wo sollte er denn sonst sein?«, fragte der Alte. Er mochte es, wenn die Leute freundlich zu ihm waren, obwohl er kein hohes Amt bekleidete. Immerhin war er der Verwahrer der Bilder, und das hatte einst etwas bedeutet. »Es ist dunkel. Er reitet nicht aus, wenn es dunkel ist.« Vage kam ihm der Verdacht, dass diese Antwort falsch war oder zumindest teilweise falsch. Ritten sie nicht auf die Jagd, die edlen Herren, bevor die Sonne aufgegangen war?
»Ist heute Jagd?«, fragte er. »Der Tag der Jagd?«
»Ja«, antwortete der Fremde.
»Dann gibt es also ein Festmahl heute Abend? Ein großes Fest? Lieder und Tanz und Narren?«
Der Mann, der sich als Prinz Kunun vorgestellt hatte, lachte auf. »Ja«, versprach er. »All das wird es geben.«
Der Alte blickte zu ihm hoch. Er war klein, gebeugt von der Last der Jahre, aber seine Augen leuchteten. »Ihr seid der Jäger«, sagte er. »Jetzt weiß ich es wieder. Ich kenne Euer Bild. Ihr seid Prinz Kunun, der Jäger.« Die freudige Überraschung überdeckte die Angst, die erst langsam in einem anderen Winkel seines Selbst erwachte.
Kununs aufmerksamer Blick entdeckte auch das – das kaum merkliche Zittern, die aufgerissenen Augen, in denen gleich das Wissen auftauchen würde, was diese Begegnung für diesen Menschen
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