Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Atem an. Schreie waren keine mehr zu hören, auch kein Kampflärm. Die Schatten selbst schienen darauf zu warten, was Hanna entscheiden würde.
»Ich schwöre«, sagte sie laut.
Die Unterhändlerin drehte sich zu den Stadtwächtern um.
»Bringt den Gefangenen.«
Man hörte Kunun schon von weitem. Die Soldaten trugen die Tür, auf der er lag, aber er hätte genauso gut mit einem Horn in der Hand darauf stehen können, Herold seines Zorns und seiner Enttäuschung.
»Wer hat hier was geschworen?«, brüllte er. »Mattim, du kennst meinen Traum! Hanna, du verfluchtes Miststück! Ich sterbe lieber hier, als dass ich Akink aufgebe! Du elende kleine Schlange, wer hat dich zur Königin der Schatten gemacht?«
Ungerührt ließ Hanna Kununs Beschimpfungen an sich abprallen und winkte die zögernden Soldaten zu sich.
Nachher wünschte sie sich, sie hätte nicht hingesehen. Wenn sie die geschundene Gestalt ihres Feindes doch nie zu Gesicht bekommen hätte! Würde sie dieses Bild jemals loswerden? Und wie sollte sie jemanden hassen, der nur noch Mitleid und Abscheu in ihr weckte?
»Du verdammter Mensch!«, schrie Kunun. »Wer hat dir erlaubt, unseren Traum zu verraten? Siehst du, was sie mit mir gemacht haben? Wo ist Mattim? Wo ist der Schweinehund? Der Bastard eines Wolfs!«
Die Träger setzten den Gefangenen wenig zartfühlend ab, und sofort hoben ihn vier Schatten mitsamt der Tür auf und trugen ihn auf die Brücke. Hinter ihnen schlossen sich die Flusshüter zusammen, um ihnen zu folgen. Eine Prozession der Dunklen, Sieger und doch Besiegte.
Je weiter sie sich entfernten, desto größer war Hannas Erleichterung. Hauptsache, sie musste Kununs Gegenwart nicht ertragen. Noch wichtiger war ihr, Réka zu sehen und sich davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging.
Flankiert von ihren beiden Wächterwölfen wartete sie neben dem ersten Pfeiler.
Als Mattim zu sich kam, befand er sich allein im Zelt. Vorsichtig stand er auf; ihm war schwindlig, aber er fühlte sich nicht mehr ganz so schwach wie vorhin noch. Ein merkwürdiges Brennen und Zittern rann in Wellen durch seine Haut, doch er konnte wieder klar denken. Die Verhandlungen! Die Brücke! Der Krieg gegen Akink!
Er eilte nach draußen und rannte aufs Ufer zu. Die Schatten standen Spalier, so wie die Brückenwächter es sonst getan hatten. Unruhig wanderten die Wölfe umher; als sie ihn erblickten, stürmten sie auf ihn zu. Bela musterte ihn mit wissenden Augen, besorgt.
»Wo ist Hanna? Dort? Dort auf der Brücke?«
»Schick die Wölfe fort, Hanna«, ordnete Mirita an. »Ich hatte gesagt, keine Ungeheuer und keine Schatten mehr auf dieser Brücke. Dann erst lasse ich die Gefangene herholen. Ich erlaube dir sogar, kurz mit ihr zu sprechen. Aber ich will diese verdammten Viecher nicht mehr sehen.«
Hanna nickte Palig und Alita zu. »Geht«, bat sie. »Geht mit den anderen. – So. Die Schatten haben schon die Hälfte der Brücke geräumt. Zeig mir das Mädchen.«
Mattim stürzte den Schatten entgegen, die zurück ans Waldufer strömten. In ihrer Mitte marschierten diejenigen, die die große Tür mit dem gefesselten Schattenprinzen trugen.
»Verräter!«, rief Kunun, sobald er Mattim erblickte. »Dafür wirst du bluten! Dafür wirst du bezahlen!«
»Ich habe alles getan, was du wolltest«, sagte Mattim. »Akink wird dir gehören.«
»Was nützt mir Akink, wenn der König flieht? Wie soll das Licht unsere Wunden heilen, wenn das Licht fort ist? Verdammt, macht mich los! Ich übernehme hier das Kommando!«
Kein einziger der Schatten reagierte auf diesen Befehl. Sie schauten nur auf Mattim.
»Einen Tag«, sagte dieser. »Einen Tag lang regiere ich noch.«
»Zwei«, berichtigte Solta, der sich durch die anderen Schatten schob. »Deine Prinzessin hat ihnen zwei Tage zugestanden, dafür, dass sie die andere Gefangene sehen darf.«
»Du?«, fragte Kunun verwundert. »Ich dachte, du wärst …?«
Mattim unterbrach ihn. »Hanna geht zu Réka? Wo ist sie? Verdammt, ihr habt sie doch nicht allein gelassen?«
»Sie hat mit Mirita vereinbart, dass sie das Mädchen sehen kann, wenn die Schatten abgezogen sind.«
Ihm stand Mirita vor Augen, das letzte Mal, als er sie gesehen hatte. Eine Mirita, die ihm merkwürdig vorgekommen war – stark und entschlossen und feindselig auf der einen Seite, aber dann auch wieder … verlockend?
Vergiss diese Hanna. Die andere Welt. Diese fremden Wege, die nicht deine sind, nicht unsere. Vergiss alles andere, und komm mit mir. Ich habe
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