Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Mensch? Deine Lebendigkeit strömt aus allen Poren. Du kannst nicht unter uns leben.«
Der Wolf stand neben ihr. Seine Wärme gab ihr Kraft, und trotzdem war es nicht genug. Nicht genug, um zu begreifen, was gerade geschah, und um zu vergessen, dass dies ein Abschied war.
Sie weinte laut. »Réka! Mattim! Ich kann nicht gehen!«
»Sieht ganz so aus, als hättest du nicht nur eine Welt zerstört, Kunun.« Der König ließ ein bitteres, spöttisches Lachen hören und wandte sich zur Treppe.
»Wohin gehst du?«, rief Kunun.
»Was geht dich das an?«, fragte Farank. »Willst du, dass ich dir diene, in meinem eigenen Schloss, meiner eigenen Stadt? Soll ich mein Elend vor dir hertragen wie ein Banner vor dem schwarzen König?«
Der goldene Wolf ließ ein Winseln ertönen und wollte ihm nach, doch der ehemalige Lichtkönig warf ihm nur einen Blick zu, dunkler und sengender als Asche. »Ich habe an dich geglaubt, Mattim. Immer wieder, immer aufs Neue. Aber deine Seele ist schwärzer als die Nacht über Akink. Ich fürchte mich davor, wozu ein Wesen fähig ist, das so tief gestürzt ist.«
Niemand versuchte ihn aufzuhalten.
Kunun tastete mit den Fingern über seine Narben.
»Komm, Hanna«, sagte Atschorek und hielt ihr den ausgestreckten Arm entgegen. »Ich bringe dich durch die Pforte.«
»Schaff sie endlich weg«, befahl Kunun.
Hanna beugte sich hinunter und schlang ihre Arme um den Nacken des Wolfes, der sich nicht rührte, als hätten die Abschiedsworte seines Vaters ihn niedergestreckt wie Schwertstreiche. »Leb wohl«, flüsterte sie.
Dann ergriff sie Atschoreks Hand.
Es war die Pforte, die durch die Verwandlung des Königs entstanden war. Sie standen in der Burg, vor ihnen der Blick auf das erleuchtete Pest, ein Meer von Häusern unter der morgendlichen Sonne. Das breite Band der Donau lag funkelnd unter ihnen.
Atschorek betrachtete Hanna mit einem ungewohnt liebevollen Blick. Zärtlich pflückte sie ihr eine Ascheflocke aus dem Haar.
»Werden wir es je erfahren?«, fragte die Schattenfrau nachdenklich. »Was passiert wäre, wenn der König das Messer nicht gezogen hätte?«
»Du meinst, was passiert wäre, wenn ich nicht geschrien hätte. Ich dachte, er wollte ihn erstechen!« Im Turm hatte sie es nicht aussprechen können, doch jetzt kam der Gedanke mit aller Macht zurück: dass es ihre Schuld gewesen war.
»Vielleicht wollte er es ja nur weglegen. Um beide Hände frei zu haben. Um Mattim richtig umarmen zu können. Was wollte er tun, Atschorek? Habe ich Mattim das Leben gerettet? Oder bin ich schuld an – an der Nacht? Und daran, dass nun alles verloren ist?«
Die rothaarige Vampirin verzog die Lippen zu einem wehmütigen Lächeln. »Ach, Hanna. Das Licht wird unsere Wunden nicht heilen. Es wird uns hinausstoßen oder verbrennen oder jagen oder im Fluss versenken. Mach dir keine Vorwürfe, meine Liebe. Geh nach Hause. Vielleicht treffen wir uns mal zum Tee in meiner Villa? Obwohl ich immer noch nicht backen kann.«
»Und Mattim.« Hanna brachte die Worte kaum heraus. »Gibt es nichts …?«
Atschorek sah an dem Mädchen vorbei auf die helle Stadt, die unerträglich helle, freundliche Stadt. »Mach dir um Mattim keine Sorgen. Er ist das, was er immer sein wollte. Sein Traum hat sich erfüllt. Wie enttäuschend wäre es gewesen, wenn der König es tatsächlich geschafft hätte, ihn zurückzuverwandeln!«
»Ich fürchte mich«, flüsterte Hanna. »Nach Hause zu gehen und den Szigethys zu sagen, dass sie ihre Tochter nie wiedersehen werden. Wie kann ich ihnen erklären, dass Réka in Magyria ist? In einem dunklen Zimmer, in einer dunklen Stadt … Wie soll ich damit leben? Und wie sollen sie damit leben, wenn sie nie erfahren, was mit ihr geschehen ist?«
Atschorek öffnete den Mund, um ihr zu antworten. Die Sonne stieg höher, blendend; die Schattenfrau hob die Hand gegen das gleißende Licht, machte einen Schritt rückwärts und verschwand.
Der Himmel über Budapest war blau. Die Farbe schien über der Stadt zu fließen wie auf einem Aquarellgemälde, ein paar kleine Wölkchentupfer verliehen dem Bild Tiefe.
Hanna sah nicht nach oben. Sie starrte nach unten, auf ihre Schuhspitzen. Abgeschürft waren sie, von den Steinen Akinks, zerkratzt und staubig.
Ich werde sie nicht putzen , dachte sie. Als könnte ich Akink abschütteln, so als wäre nichts gewesen.
» Ich kann Ihnen nicht so recht glauben, dass Sie nichts wissen«, sagte der Kommissar mit dem prächtigen Schnauzbart.
»Da kann ich
Weitere Kostenlose Bücher