Magyria 02 - Die Seele des Schattens
öffnete das Gartentor. »Zu mir kommen sie nicht mehr.«
Manchmal erwachte sie von einer Stimme, die im Dunkeln flüsterte. Sie konnte nicht erkennen, wem diese Stimme gehörte, die aus ihren Träumen aufstieg. War es die Königin, die ihr eine Geschichte erzählte, immer dieselbe Geschichte? Immer dieselben Worte, die sich Hanna in jener furchtbaren Nacht im Verlies eingeprägt hatten. Sie schlief – und schlief schlecht –, und es war, als würde die Königin an ihrem Bett sitzen.
Da rief das Mädchen den Wolf zu sich. Sie streckte die Hände nach ihm aus und hielt ihn fest.
Sie hielt ihn fest, hielt ihn fest …
Aber wenn Hanna die Augen öffnete, saß niemand an ihrem Bett. Sie starrte in die Dunkelheit und wünschte sich, dass Mattim durch die Wand treten möge. Mattim, nicht ein Wolf. Mattim, der Junge mit dem goldenen Haar, ihr Mattim. Dann schnürte der Schmerz ihr die Kehle zu, und sie würgte an ihrem Schluchzen, bis sie glaubte, daran sterben zu müssen. Aber es war viel schwerer, an Kummer zu sterben, als sie geglaubt hatte. Wie ein Schatten fühlte sie sich, wie jemand, der nicht richtig lebte und dennoch nicht aufhören konnte zu existieren. Auch ohne Herz musste man weitermachen, immer weitermachen, und wie ein Schatten durch den Tag wandern und des Nachts an der Einsamkeit ersticken.
In einer dieser Nächte, in denen sie nicht wusste, wohin, nicht wusste, wie sie den Schrei in ihrer Kehle ungeschrien herunterschlucken sollte – denn er hätte ganz Budapest geweckt –, ging Hanna hinunter in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank und starrte hinein, ohne Appetit, bis die Kälte ihr die Beine hochkroch. Mit einem Glas Wasser setzte sie sich in den Wintergarten, ohne Licht zu machen. Der Korbstuhl knarrte leise.
Sie saß ganz ruhig da. Eine Statue, eingefroren im Winter, die der Frühling vergessen hatte.
Der Garten war nicht ganz dunkel, wenn die Augen sich erst einmal daran gewöhnt hatten. Der Schein, der jede Nacht über der Stadt lag, leuchtete über ihm wie immerwährender Vollmond. Nur unter den Tannen war es völlig finster.
Eine seltsam lebendige Dunkelheit, ein bewegter Schatten, als zauste Wind die Bäume und ließe ihre Äste schaukeln.
Hanna stand auf und öffnete leise die große Glastür. Sie trat hinaus in die milde Sommernacht.
»Hanna.« Ein Flüstern unter den Bäumen.
»Wer ist da?«
Réka lachte leise. »Endlich! Ich habe schon gestern darauf gehofft, dass du mich siehst. Ich hab Steine an dein Fenster geworfen, hast du mich nicht gehört? Ich dachte schon, du bist nach Deutschland zurückgefahren.«
»Ich kann nicht zurückfahren«, sagte Hanna. »Attila braucht mich, ich kann ihn nicht ausgerechnet jetzt alleine lassen.« Sie wollte nicht verraten, dass Mónika außerstande war, sich um ihren Sohn zu kümmern. »Was tust du hier?«
»Was wohl? Ich besuche dich. Und ich wollte das Haus sehen. Mama und Papa schlafen, oder?« Sie zögerte. »Ist es sehr schlimm für sie?«
Wenn Réka eine Ausreißerin gewesen wäre, die vor der Wahl stand, wieder zurückzukommen, hätte sie ihr von den Tränen erzählt. Davon, wie Mónika, weiß wie die Wand, durch das Haus schlich. Wie Ferenc zur Arbeit fuhr, mit einem Gesicht aus Stein. Wie Attila fragte und fragte und fragte. Wo ist sie denn? Wann kommt sie nach Hause? Warum weint ihr? Sie kommt doch zurück? Oder? Sie kommt doch zurück?
Aber Réka konnte nicht bleiben, daher sagte Hanna schlicht: »Sie vermissen dich.«
»Mach nicht so ein Gesicht. Ich habe ein wunderschönes Zimmer bekommen, mit Blick auf den Donua. Atschorek bringt mir aus der Stadt mit, was ich haben möchte. Ich weiß, ich muss nichts essen, trotzdem fühlt es sich einfach besser an. Kunun sehe ich nicht oft, aber wenn er da ist, ist er total nett. Er ist jetzt König, denn der alte König ist nicht mehr zurückgekommen. Wir haben die ganze Burg für uns. Und weißt du, was das Beste ist? Dass ich nicht mehr zur Schule gehen muss!«
»Ich könnte dir deine Bücher bringen.«
»Bloß nicht! Muss ich in Akink rechnen? Oder Englisch können? Ein Fernseher wäre nicht schlecht, aber sie haben dort keinen so guten Empfang.« Réka kicherte über ihren kleinen Scherz. »Also, mach dir nur um mich keine Sorgen. Wenn ich Heimweh habe, komme ich hierher in den Garten. Es ist fast, als würde ich hier noch wohnen, nur eben nachts. Es fühlt sich an wie Ferien.« Das Mädchen umarmte Hanna stürmisch.
»Und – Mattim?« Sie hatte nicht nach ihm fragen
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