Magyria 02 - Die Seele des Schattens
wollen. Sie hatte, sobald sie Réka erkannt hatte, sofort den Vorsatz gefasst, seinen Namen nicht zu erwähnen. So wie sie jeden Abend, wenn sie schlafen ging, versuchte, sein Bild aus ihrem Kopf zu verdrängen. Nicht an ihn zu denken, damit das Leben weitergehen konnte – was natürlich zwecklos war. Genauso wenig konnte sie diese Frage verhindern.
»Mensch, Hanna«, sagte Réka. »Ich hatte gehofft, du fragst nicht.«
»Wie geht es ihm?«
»Kunun behauptet, er wäre glücklich. Sie wären alle glücklich, die Wölfe. Es ist das, was uns Schatten alle erwartet. Kannst du dir vorstellen, dass auch ich eines Tages ein Wolf sein werde? Wo ich nicht einmal Pudel leiden kann?«
»Hast du ihn gesehen?«
»Er wird fortgehen«, sagte Réka. »In die Wälder. Mit den anderen Schattenwölfen. Es sind zu viele Wölfe in Akink, Kunun hat schon einen großen Teil von ihnen weggeschickt. Sie müssen essen. Sie jagen, und weil es so schrecklich viele sind, ist rund um Akink nicht mehr viel Wild übrig.«
Auch wenn Mattim unerreichbar für sie war, hatte es Hanna irgendwie getröstet, sich vorzustellen, wie er in Akink lebte. Wie ihre Wege sich vielleicht manchmal kreuzten, wenn sie durch die Straßen ging. Dass sie, wenn die Sehnsucht nach ihm mit Macht in ihr aufstieg, vielleicht gerade an derselben Stelle vorübergekommen war wie er in Akink. Nur ein Schritt trennte sie voneinander, nur eine Pforte, die nicht vorhanden war und durch die keiner von ihnen gehen konnte. Aber wenn er nicht mehr in der Stadt war …
Was wusste sie von Magyria? Wenn sie an ihn dachte, wo sollte sie sich ihn vorstellen? Ein Land, bevölkert von Schatten. Wo lagen seine Grenzen? War überall Finsternis, oder gab es irgendwo wieder Licht? Wie sollte der Wald denn weiterexistieren, in einer ewigen Nacht, wie sollten die Pflanzen überleben und die Rehe, die sich von ihnen ernährten, und die Wölfe, die auf der Jagd waren? Aber vielleicht hatte das alles in Magyria auch keine Bedeutung. Ein Traumland. Ein Traumwald.
»Tut mir leid«, sagte Réka leise.
»Bring mich zu ihm«, bat Hanna. »Ich möchte ihn noch einmal sehen. Ich muss mich von ihm verabschieden.«
»Atschorek hat es verboten. Sie sagt, die Wölfe müssen gehen, und es würde ihm unnötig schwerfallen, wenn du kommst.«
Hanna schluckte. »Kann sie das nicht uns entscheiden lassen? Ihn und mich? Da hat Atschorek sich gar nicht einzumischen.«
»Tut mir leid«, sagte Réka noch einmal. »Ich werde dich ab und zu besuchen.«
»Wann?«, rief Hanna schnell. »Wann wird er gehen?« Sie streckte die Arme aus, um Réka festzuhalten, aber es war zu spät. Einen Moment später stand sie alleine unter der großen Tanne.
Ihre bloßen Füße waren kalt, als sie zurück in den Wintergarten schlüpfte. Sie merkte es kaum. Das Zittern, das durch ihren ganzen Körper lief, hatte mit Kälte nichts zu tun.
Das Foto von Mattim. Sie betrachtete es immer wieder, obwohl sie jedes Detail kannte, obwohl sie es hätte zeichnen können. Das blonde Haar fiel ihm über die Stirn. Es sah aus, als ob er schliefe. Hatte sie sich da in ihn verliebt? Als sie in seinen Anblick versunken war, ohne dass er es merkte, und begriff, dass sie nie wieder auf dieses Gesicht verzichten konnte?
Mattim, als sie ihn wiederfand, gequält von dem Gedanken an das, was er getan hatte. Mattim, der sie mitten auf dem Bürgersteig geküsst hatte. Mattim in Atschoreks Haus, ein fröhlicher Mattim, der ohne Bitterkeit lachen konnte. Mattim, als sie ihm Budapest gezeigt hatte. Ihr gemeinsames Lernen. Mattim mit Attila, ausgelassen, kumpelhaft. Und dann der andere Mattim im Verlies, erfüllt von brennendem Hass. Der andere Mattim, der gegen Akink gezogen war, um Réka zu retten, und mit einer Entschlossenheit vorgegangen war, die ihr manchmal Angst gemacht hatte. Und ihm auch. Dieser Mattim, der nicht wusste, wozu er fähig war. Der Mattim, der den König gebissen hatte, als dieser ihn umarmen wollte – oder erstechen. Es nie zu wissen, nie … wie unerträglich. Aber vielleicht wäre es noch schlimmer gewesen, die Wahrheit zu kennen.
Deine Seele ist so schwarz wie die Nacht über Akink …
Nein! Sie wünschte sich oft, sie könnte mit dem König reden, ein einziges Mal, und ihm erklären, dass das nicht stimmte.
Wir hatten doch gar keine Wahl. Wir mussten Réka retten. Und sind so den von Kunun vorbereiteten Pfad gegangen … Wie hatte der Weg so tief hinunterführen können, so unumkehrbar ins Dunkel?
Hanna weigerte sich, an
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