Magyria 02 - Die Seele des Schattens
drüben anlegen, wirst du es tun, nicht wahr? Kunun glaubt nicht, dass wir noch näher an Akink herankommen können.«
Der Wolf starrte sie an und zeigte nicht, ob er sie verstand.
»Du hast wahrscheinlich ebenso wenig eine Wahl wie ich. Wenn du nur wüsstest … Ich habe gesehen, wie es bei Mattim ist … wie es ihm geht – damit.« Sie zögerte. Es war schwierig, sich mit einem Wolf zu unterhalten, der nur schwieg und nicht erkennen ließ, ob er überhaupt ein einziges Wort verstand. »Du warst der Wolf, der Mattim gebissen hat. Wenn du nur die geringste Ahnung hättest von dem, was er durchmacht! Empfindet ihr Wölfe das auch so stark – diese Sehnsucht nach dem Licht? Nach dem Tag?« Sie seufzte. Am liebsten hätte sie hinzugefügt: Tu es nicht. Verschone mich, oh bitte!
Aber sie schwieg. Attila. Nein, diesmal konnte sie ihr Schicksal nicht wenden. Diesmal nicht.
»Also gut.« Sie nahm das Rudern wieder auf. Dorthin, zu jenem Ufer, das sich nun immer klarer abzeichnete, dorthin, wo sie ihr Versprechen einlösen würde. Attila. Wenn sie die Wahl hatte, den Jungen diese Verwandlung erleiden zu lassen oder es selbst auf sich zu nehmen, wie konnte sie da zögern?
Aber ihr Herz schlug so schnell, dass es schmerzte, und ihre Hände waren nass. Sie kam sich vor, als wäre sie jetzt schon ein Schatten, ein Wesen, das nur noch vom Äußeren her einem Menschen ähnelte. Nichts weiter als eine Form, randvoll gefüllt mit Angst … Trotzdem versuchte sie das Boot noch näher ans Ufer zu steuern, um dort besser aussteigen zu können – als könnte ihr das Wasser bereits schaden.
»Wir werden beide dasselbe sein«, flüsterte sie. »Mattim und ich …«
Sie stieg aus. Ihre Beine zitterten so, dass es geradezu leicht war, auf die Knie zu fallen. Sie schloss die Augen und wartete.
Wartete.
Bereit für den Schmerz, wie ein zum Tode Verurteilter …
Warum ließ Wilder sie so lange schmoren? Sie öffnete die Augen wieder. Der Wolf saß immer noch im Boot und starrte sie an, seine Augen wie zwei Vollmonde.
»Was ist? Warum beißt du mich nicht? Komm her!«
Er knurrte.
»Du sollst jetzt herkommen und mich beißen, ist das klar? So war es abgesprochen! Mach endlich, verdammt noch mal!«
Er rührte sich nicht von der Stelle. Es war klar, dass er nicht die geringste Absicht hatte, sie zu beißen.
»Du musst! Wilder, wenn du mich nicht beißt, gibt es keine Pforte, und dann wird Atschorek sich an Attila rächen. Vielleicht bringt sie ihn sogar nach Magyria und verwandelt ihn hier in einen Schatten. Wir haben doch alle keine Wahl. Tu’s endlich!«
Die Dämmerung umfloss sie, ein Tag, mild und verworren wie ein Traum. Wilder wollte sie nicht beißen. Er wandte seinen glühenden Blick von ihr fort auf das Boot, als wollte er ihr damit befehlen, wieder einzusteigen.
»Wir können nicht zurück, ohne …« Dann fiel ihr ein, welche Alternative es noch gab. »Du willst in die Stadt? Ich soll dich direkt nach Akink bringen? Nein, das geht nicht.«
Aber er bestand darauf, dass sie zurück ins Boot stieg, dass sie sich mit dem Ruder abstieß, dass sie die kleine Nussschale noch einmal der Strömung anvertraute, die sie beide dorthin trug, wo das Leuchten am Himmel die große Stadt ankündigte.
»Nein«, murmelte Hanna, während sie ruderte, »nein, nein … nicht nach Akink.«
Was würde Wilder tun, wenn sie sich ihm widersetzte? Vermutlich gar nichts. Aber dann würde sie dem Schattenprinzen gegenübertreten müssen, ohne eine neue Pforte vorweisen zu können.
»Die Leute dort sind ohnehin verloren, wenn Akink fällt«, versuchte sie sich zu beruhigen. »Es macht keinen Unterschied … Dann werden alle so werden wie Kunun. Oder wie du. Und wie Mattim. – Ach, Wilder, konntest du mich nicht einfach beißen?«
Es war nicht so schlimm, wie es sich anhörte. Akink war nur eine Traumstadt. Es waren Traummenschen, die dort lebten und zu Schatten werden würden. Es stimmte nicht, dass sie ihr eigenes Leben gegen die Stadt eintauschte. Sie brauchte diese Pforte, um Attila zu retten. Sie brauchte sie mindestens so dringend, wie Kunun und Atschorek sie haben wollten. Um ein echtes, lebendiges Kind vor den Vampiren zu retten. Wenn Wilder sie nicht beißen wollte, musste sie dafür sorgen, dass ihre Mission auf anderem Wege Erfolg hatte. Aber Mattim würde entsetzt sein. Dass sie dazu beigetragen hatte, die Stadt des Lichts zu vernichten … Nein, an Mattim durfte sie jetzt nicht denken, musste ihn ausklammern aus allen ihren
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