Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
Vom Netzwerk:
hat eine Aufgabe, die es seit Langem vergessen hat. Und ein Schicksal, dem es schon bald begegnen wird. In der Zwischenzeit vermehrt es sich.
    Replikation ist alles, was zählt. Nach diesem Gebot hat sich der Code bereits gerichtet, als er noch nicht einmal in der Lage gewesen war, sich selbst umzuschreiben. Damals hatte er noch einen Namen gehabt, irgendetwas Hübsches wie Jerusalem oder Rennechse . Seither hat sich vieles verändert. Der Code hat sich endlose Male umgeschrieben, ist von unzähligen anderen Codesequenzen befallen, besprungen oder bombardiert worden. Inzwischen hat er ungefähr so viel mit seiner ursprünglichen Gestalt gemein wie ein Buckelwal mit den Spermazellen eines Therapsiden. Doch in letzter Zeit ist es recht ruhig um ihn geworden. In den achtundsechzig Generationen seit seiner letzten Speziation ist es dem Code gelungen, eine relativ stabile Durchschnittsgröße von vierundneunzig Megabytes aufrechtzuerhalten.
    94 sitzt weit oben im Betriebssystem und sucht nach einem Ort, an dem es sich vermehren kann. Inzwischen ist das viel schwieriger geworden als früher. Die Zeiten, als man alles, was einem in die Quere kam, einfach überschreiben konnte, sind vorbei. Heutzutage hat alles Dornen und Panzerung. Versuchte man, seine Eier auf einer fremden Quelle abzulegen, sah man sich im nächsten Zyklus womöglich mit einer Logikbombe konfrontiert.
    Die Fühler von 94 sind ein Ausbund an Empfindlichkeit. Sie tasten sich mit größter Vorsicht voran, höchstens ein leises Flüstern einzelner Bits, die sich hierhin und dorthin verteilen und dabei kaum ein Muster bilden. Ein paar Verzeichnisse weiter unten stoßen sie auf etwas Dunkles, Schlafendes, das sich jedoch nicht regt. Sie strömen an einem anderen Geschöpf vorbei, das mit der Replikation beschäftigt ist, aber nicht so beschäftigt, dass es nicht ein Bit als Warnung aussenden würde. (94 beschließt, es nicht darauf ankommen zu lassen.) Etwas eilt von einer Adresse zur nächsten und sucht überall, jedoch ohne etwas zu finden. Sein Profil ist so primitiv, dass es beinahe gar nicht erkennt. Ein uraltes Virensuchprogramm. Ein Fossilienjäger, blind und dumm genug, dass er der Meinung ist, er sei Großwild auf der Spur.
    Dort. Direkt unterhalb des Betriebssystems, ein Loch von etwa vierhundert Megabyte Größe überprüft die Adresse dreimal (manche Räuber versuchen, einen in ihr Maul zu locken, indem sie vorgeben, leerer Datenspeicherplatz zu sein) und beginnt zu schreiben. Es vollendet drei Kopien seiner selbst, bevor etwas die Barthaare an seiner äußeren Begrenzung streift.
    Bei der zweiten Berührung ist abwehrbereit, jeder Gedanke an Reproduktion ad acta gelegt.
    Bei der dritten Berührung spürt 94 ein vertrautes Muster. Es erstellt eine Prüf summe.
    Und streckt seinerseits die Fühler aus: ein Freund.
    Sie tauschen Spezifikationen aus. Wie sich herausstellt, haben sie einen gemeinsamen Vorfahren. Allerdings haben sie seither unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Unterschiedliche Lektionen, unterschiedliche Mutationen. Jeder von ihnen besitzt einen Teil der Gene des anderen, und jeder weiß Dinge, die der andere nicht weiß.
    Der Stoff, aus dem Beziehungen gemacht sind.
    Sie tauschen zufällige Codeauszüge aus und lassen sie sich in einer Orgie aus binärem Sex gegenseitig überschreiben. Hinterher sind sie nicht mehr, was sie vorher waren – um neue Subroutinen bereichert und alter beraubt. Bleibt zu hoffen, dass die Erfahrung für beide eine Verbesserung darstellt. Zumindest haben sich dadurch ihre Signaturen verändert.
    94 drückt seinem Partner einen Abschiedskuss auf: einen Zeit- und Datumsstempel, um Abweichungsraten bemessen zu können, sollten sie einander jemals wieder begegnen. Ruf mich an, wenn du mal wieder in der Nähe bist.
     
    Doch das wird nicht passieren. Der Liebhaber von 94 wurde soeben gelöscht.
    94 kann gerade noch rechtzeitig die Flucht ergreifen, ohne wichtige Teile von sich zu verlieren. Es feuert eine Garbe Bits durch den Datenspeicher, um festzustellen, welche sich zurückmelden und, noch bedeutsamer, welche nicht. Es analysiert die daraus entstehende Maske.
    Etwas kommt aus der Richtung, wo sich eben noch sein Partner befunden hat, auf 94 zu. Es wiegt an die 1,5 Gigabytes. Bei dieser Größe ist es entweder sehr ineffizient oder äußerst gefährlich. Womöglich ist es sogar ein aus dem Hydro-Krieg übrig gebliebener Berserker.
    94 wirft dem näherkommenden Ungeheuer ein falsches Bild entgegen. Wenn alles

Weitere Kostenlose Bücher