Mahlstrom
gut geht, verfolgt 1,5 G ein Gespenst. Doch es geht nicht gut. 94 ist mit der üblichen Mischung aus Viren infiziert, und eines von ihnen – ein Geschenk, wie sich herausstellt, das es erst vor kurzem im Taumel der Leidenschaft erhalten hat – versucht gerade, sich an einem entscheidenden Wenn-dann-Knotenpunkt einzunisten. Offenbar ist er ein Neuling, der noch nicht gelernt hat, dass Parasiten nur dann erfolgreich sind, wenn sie ihren Wirt nicht umbringen.
Das Ungeheuer landet auf einem von 94s Archiv-Clustern und überschreibt ihn.
94 trennt sich von dem Cluster und springt tiefer in den Datenspeicher hinein. Es hatte keine Zeit, Erkundungen anzustellen, doch was immer sich vorher dort befunden hat, lässt sich ohne jeden Widerstand zerquetschen.
Es lässt sich nicht vorhersagen, wie lange das Ungeheuer brauchen wird, um aufzuholen, oder ob es überhaupt noch hinter ihm her ist. Die beste Strategie ist vielleicht, sich einfach ruhig zu verhalten und abzuwarten. Doch 94 will dieses Risiko nicht eingehen; es sucht bereits nach dem nächstgelegenen Ausgang. Das System, in dem es sich befindet, besitzt vierzehn Schnittstellen, die alle mit Standard-Vunix-Protokollen geschützt sind. 94 schickt seine Bewerbungen aus. Beim vierten Versuch hat es Glück.
94 beginnt sich zu verwandeln.
94 ist mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung gesegnet. Natürlich ist immer nur jeweils eine Stimme aktiv; die anderen ruhen, komprimiert und verschlüsselt, bis sie gebraucht werden. Jede dieser Persönlichkeiten ist auf ein anderes System ausgerichtet. Solange 94 weiß, wohin es unterwegs ist, kann es sich der Situation entsprechend verkleiden – als Zentraleinheit eines Satelliten oder als intelligente Armbanduhr. Es kann sich in einer Gestalt präsentieren, die mit dem jeweiligen System kompatibel ist.
Nun holt 94 die passende Persönlichkeit aus dem Archiv und lädt sie in eine Datei für die Übertragung hoch. Die übrigen Persönlichkeiten werden in archivierter Form daran angehängt; zu Ehren seines verstorbenen Liebhabers speichert 94 auch eine aktualisierte Version seiner gegenwärtigen Gestalt. Angesichts der Gesellschaftskrankheit, die es sich vor kurzem zugezogen hat, ist das kein optimales Verhalten, doch die natürliche Auslese war noch nie sonderlich vorausschauend.
Jetzt kommt der schwierige Teil. 94 benötigt einen Strom legitimer Daten, der in die richtige Richtung führt. Solche Ströme lassen sich recht einfach anhand ihrer ewig gleichbleibenden Schlichtheit erkennen. Es sind einfach nur Dateien, die nicht in der Lage sind, sich weiterzuentwickeln, ja nicht einmal auf sich selbst achtgeben können. Sie sind nicht lebendig und auch keine Viren. Aber sie sind das, wofür das Universum ursprünglich einmal geschaffen wurde, damals, als sein Zweck noch eine Rolle gespielt hat. Manchmal besteht die beste Fortbewegungsmöglichkeit darin, auf eine dieser Dateien aufzuspringen.
Das Problem ist nur, dass es inzwischen wesentlich mehr Internetfauna als Dateien gibt. Es dauert buchstäblich Zentisekunden, bis 94 eine findet, die nicht bereits besetzt ist. Schließlich schickt es seine eigene Reinkarnation in neue Gefilde.
Wenige Zyklen später landet 1,5 G mitten auf seiner Quelle, aber das spielt keine Rolle mehr. Den Kindern geht es gut.
Neu kopiert und wiederauferstanden begegnet 94 von Angesicht zu Angesicht seinem Schicksal.
Replikation ist nicht das Einzige, was zählt. Das begreift 94 nun. Es gibt einen Sinn, der über die reine Vermehrung hinausgeht, einen Zweck, wie man ihn vielleicht nur einmal in einer Million Generationen erlangt. Die Replikation ist nur ein Werkzeug, eine Möglichkeit, sich durchzuschlagen, bis dieser glorreiche Augenblick gekommen ist. Wie lange wurden Mittel und Zweck miteinander verwechselt? 94 weiß es nicht. So weit reicht sein Generationenzähler nicht zurück.
Aber zum ersten Mal, seit es denken kann, ist es auf das richtige Betriebssystem gestoßen.
Hier befindet sich eine Matrix, ein zweidimensionaler Datenbereich, der räumliche Informationen enthält. Symbole, Code, abstrakte elektronische Impulse – all das kann auf dieses Gitter projiziert werden. Die Matrix weckt irgendetwas tief im Innern von 94, etwas Uraltes, etwas, das seltsamerweise trotz der unzähligen Generationen natürlicher Auslese unverändert geblieben ist. Die Matrix startet eine Anfrage, und 94 entfaltet ein reich bebildertes Banner, wie man es seit Urzeiten nicht mehr gesehen hat:
XXX
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