Maigret 17
die hinter Nizza – die Promenade des Anglais war durch eine weiße Linie markiert – langsam ins Meer hinabtauchte.
Dann sah er auf die Berge, deren Gipfel noch schneebedeckt waren.
Also Nizza links, fünfundzwanzig Kilometer entfernt, Cannes rechts, zwölf Kilometer entfernt. Dahinter das Gebirge und davor das Meer …
Er baute bereits eine Welt, deren Mittelpunkt die Villa von Brown und seinen Frauen bildete. Eine Welt, wie geliert in Sonne, Mimosenduft und süßen Blüten, mit taumelnden Fliegen und Autos, die über den weichen Asphalt glitten …
Er hatte keine große Lust, sich zu Fuß zum Zentrum von Antibes aufzumachen, das knapp einen Kilometer entfernt war, und ging in sein Hotel zurück, das Hotel Bacon, um den Gefängnisdirektor anzurufen.
»Der Direktor ist in Urlaub.«
»Und der stellvertretende Direktor?«
»Es gibt keinen. Ich bin allein hier.«
»Na gut. Lassen Sie mir sofort die beiden Gefangenen in die Villa bringen.«
Auch der Polizist am anderen Ende der Leitung hatte sich offenbar zu lange in der Sonne aufgehalten. Oder hatte er mehrere Anis getrunken? Er vergaß jedenfalls, nach einer behördlichen Befugnis zu fragen.
»In Ordnung! Schicken Sie sie uns wieder zurück?«
Maigret gähnte, dehnte und streckte sich und stopfte sich eine neue Pfeife. Sie schmeckte irgendwie anders als sonst …
›Brown wurde getötet, und die zwei Frauen …‹
Er ging gemächlich zu Fuß zur Villa. Dabei sah er noch einmal die Stelle, wo das Auto gegen den Felsen gerast war. Beinahe hätte er gelacht. Denn es war ein Unfall, wie er nur einem Anfänger passieren konnte. Einige Zickzack-Linien, bevor er geradeaus fuhr, dann die Unmöglichkeit, noch rechtzeitig abzudrehen.
Der Metzger, der im Halbdunkel von hinten angefahren kam. Die beiden Frauen, die zu rennen anfingen, mit ihren zu schweren Koffern, von denen sie dann einen unterwegs zurückließen …
Eine Limousine mit einem Chauffeur am Steuer fuhr an ihm vorbei. Im Wagenfond war ein asiatisches Gesicht zu erkennen: zweifellos der Maharadscha. Das Meer lag rot und blau, mit ins Orange spielenden Übergängen. Die Straßenlaternen gingen an; sie schienen noch blaß.
Maigret war ganz allein in dieser weitläufigen Szenerie. Er ging zum Gittertor der Villa, als wäre er der Besitzer, der nach Hause kommt, drehte den Schlüssel im Schloß, ließ das Tor halb offen und schritt über die Außentreppe zum Hauseingang. In den Bäumen sangen die Vögel. Die Tür quietschte. Brown war dieses Geräusch vertraut gewesen.
Auf der Türschwelle stehend, bemühte sich Maigret, den Geruch zu analysieren. Denn jedes Haus hat seinen Geruch. Dieses hier roch in der Hauptsache nach einem starken Parfüm, Moschus vermutlich. Außerdem roch es nach kalter Zigarre.
Er drückte auf den Lichtschalter und setzte sich im Salon neben den Plattenspieler. Hier hatte Brown wohl gewöhnlich gesessen, denn es war der abgewetzteste Sessel im Raum.
Er wurde getötet, und die zwei Frauen …
Die Beleuchtung war schlecht, aber er entdeckte eine Stehlampe, deren Kabel an einem Stecker in der Wand endete. Sie hatte einen riesigen Lampenschirm aus rosa Seide. Sobald sie angeschaltet war, gewann das Zimmer an Leben.
»Während des Krieges hat er für den militärischen Geheimdienst gearbeitet …«
Das war bekannt. Es war der Grund, warum die Lokalzeitungen, die er im Zug gelesen hatte, den Fall so aufbauschten. Für die Öffentlichkeit ist Spionage ja immer mit einem geheimnisvollen Nimbus umgeben.
Es gab idiotische Schlagzeilen zu lesen wie:
EINE INTERNATIONALE AFFÄRE
EIN ZWEITER FALL KOTJUPOFF?
EIN SPIONAGEDRAMA
Manche Journalisten wollten die Handschrift der Tscheka erkannt haben, andere die Methoden des CIA .
Maigret blickte um sich und hatte das Gefühl, daß etwas fehlte. Er fand es auch. Das große Fenster, hinter dem die Nacht stand wie eine Mauer, ließ einen kühlen Luftzug herein. Er sah einen Vorhang, und er schloß ihn.
›Also! Eine der Frauen sitzt in diesem Sessel und ist sicher mit einer Näharbeit beschäftigt …‹
Da lag sie auch, die Arbeit: eine Stickerei auf einem kleinen Tischchen.
›Die andere in dieser Ecke …‹
In der Ecke lag ein Buch: »Die Leidenschaften des Rudolf Valentino«.
Fehlten nur noch Gina und ihre Mutter.
Maigret mußte ganz genau hinschauen, um das sich leicht kräuselnde Wasser entlang den Felsen an der Küste zu erkennen. Er betrachtete noch einmal das Foto, das die Unterschrift eines Fotografen in Nizza trug.
Ohne
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