Maigret 17
haben …«
»Na, dann wollen wir mal, wenn es Ihnen recht ist, den Tagesablauf durchgehen. Wer von Ihnen stand zuerst auf?«
»William. Er schlief meistens auf dem Diwan in der Halle. Man konnte ihn schon im Haus herumtapsen hören, wenn es noch dunkel war. Ich habe ihm hundertmal gesagt …«
»Entschuldigung! Hat er Kaffee gemacht?«
»Ja. Wenn wir um zehn herunterkamen, stand der Kaffee auf der Wärmeplatte. Aber er war schon kalt.«
»Und Brown?«
»Er schlich herum, im Garten, in der Garage. Oder er saß auf einem Stuhl und schaute aufs Meer. Oder wir mußten einkaufen. Dann holte er den Wagen heraus … Noch was gab’s, wozu ich ihn einfach nicht bringen konnte: daß er sich richtig anzog, bevor wir zum Markt fuhren. Er hatte unterm Jackett immer noch sein Nachthemd an, trug Pantoffeln und war unfrisiert. Wir sind nach Antibes gefahren, und er hat vor den Geschäften im Auto gewartet.«
»Zog er sich an, wenn Sie wieder zu Hause waren?«
»Manchmal, manchmal auch nicht. Es kam auch vor, daß er sich vier oder fünf Tage überhaupt nicht gewaschen hat.«
»Wo haben Sie gegessen?«
»In der Küche! Wenn man kein Personal hat, kann man es sich nicht leisten, alle Zimmer schmutzig zu machen …«
»Und was war am Nachmittag?«
Da machten sie natürlich Siesta. Um fünf Uhr begann er, in Pantoffeln im Haus herumzuschlurfen.
»Gab es viel Streit?«
»Fast nie! Aber wenn man was zu ihm gesagt hat, hatte William eine beleidigende Art, sich in Schweigen zu hüllen.«
Maigret gelang es, nicht zu lachen. Er fühlte sich durch und durch solidarisch mit dem verflixten Kerl von Brown.
»Man hat ihn also ermordet. Es hätte passiert sein können, als er durch den Garten ging. Aber da Sie ja Blut im Auto gefunden haben …«
»Warum sollten wir lügen?«
»Natürlich, natürlich! Er ist also woanders ermordet worden. Oder jedenfalls verwundet. Und statt zu einem Arzt zu gehen oder zur Polizei, ist er, bevor er zusammenbrach, noch hierher gefahren. Sie haben den Leichnam ins Haus gebracht?«
»Wir konnten ihn doch nicht draußen liegen lassen!«
»Sagen Sie mir mal, warum Sie nicht die Behörden verständigt haben? Ich bin sicher, Sie haben einen überzeugenden Grund anzuführen.«
Die Alte stand da und erklärte in bestimmtem Tonfall:
»Jawohl, Monsieur! Und diesen Grund werde ich Ihnen sagen! Im übrigen würden Sie die Wahrheit eines Tages ja doch herausbekommen. Brown war früher in Australien verheiratet gewesen, denn er ist Australier. Seine Frau lebt noch. Sie hat nie in die Scheidung eingewilligt, und sie wird schon gewußt haben, warum. Wenn wir heute nicht gerade in der schönsten Villa an der Côte d’Azur wohnen, ist es ihre Schuld …«
»Haben Sie sie schon mal gesehen?«
»Sie hat Australien nie verlassen. Aber sie hat es mit allen Mitteln soweit gebracht, daß ihr Mann unter Vormundschaft gestellt worden ist. Seit zehn Jahren leben wir jetzt mit ihm, wir kümmern uns um ihn und trösten ihn. Uns ist es zu verdanken, daß ein wenig Geld auf der Seite liegt. Und wenn nun …«
»Wenn Madame Brown vom Tod ihres Mannes erfährt, würde sie hier alles beschlagnahmen lassen!«
»Genau! Und wir hätten uns völlig umsonst aufgeopfert. Und nicht nur das! Ich bin nicht völlig mittellos, mein Mann ist bei der Armee gewesen, und ich habe eine kleine Pension. Eine Menge Dinge hier gehören mir. Aber die Frau hat das Gesetz auf ihrer Seite. Die hätte uns ganz einfach vor die Tür gesetzt, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Und da haben Sie sich’s erst noch mal überlegt. Drei Tage lang haben Sie das Für und Wider abgewogen, und währenddessen lag drüben in der Eingangshalle auf dem Diwan die Leiche …«
»Zwei Tage! Wir haben ihn am zweiten Tag beerdigt.«
»Nun also zu Ihnen beiden. Sie haben danach alles zusammengepackt, was es im Haus an Wertvollem gab, und … wo wollten Sie eigentlich hin?«
»Ganz egal. Nach Brüssel, nach London …«
»Sind Sie schon mal mit dem Wagen gefahren?« fragte er Gina.
»Noch nie. Ich hab nur einmal in der Garage den Motor angelassen.«
Äußerst mutig, alles in allem! Ein höchst unwahrscheinlich wirkender Vorgang, dieser Aufbruch, mit der Leiche im Garten, den drei schweren Koffern, dem schlingernden Auto …
Maigret hatte allmählich genug von der Atmosphäre, von dem Moschusduft und dem rötlichen Licht, das der Lampenschirm verbreitete.
»Gestatten Sie, daß ich mich mal im Haus umsehe?«
Die beiden Frauen hatten wieder ihre herablassende
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