Maigret - 18 - Maigret in Nöten
Plan, den man ihm skizziert hatte, sah es ganz einfach aus: rechts der Kanal mit der Schleuse und dem an der Entladerampe festgemachten Schiff Gassins; links die beiden Bistros, das hohe Haus und ganz hinten das kleine Tanzlokal.
Das mochte durchaus zutreffend sein, wenn man von dem ganzen Drumherum absah. Aber allein schon im Becken oberhalb der Schleuse lagen an die fünfzig Schiffe, die einen am Quai festgemacht, die andern dicht daneben vertäut, und weitere, die von der Sonne beschienen langsam vorbeiglitten. Und auf der Straße rollte unaufhörlich der Verkehr, überwiegend schwere Lastwagen, die ihre polternden Anhänger hinter sich herzogen.
Das Eigentliche dieses Stadtbilds jedoch, sein Herz gleichsam – denn es gab den Rhythmus seiner Schläge selbst an die Luft weiter – war ein bizarres Gebilde aus rostigem Eisen, das am Ufer aufragte. Ein Turm, der nachts wohl nur einen unscheinbaren Fleck im Dunkel bildete, tagsüber aber aus allen Rohren dröhnte und Lärm machte mit seinen scheppernden Längs- und Querträgern und Rollbändern: ein Steinbrecher nämlich, und das Gestein, das zermalmt wurde, prasselte auf Siebe nieder, nur um wieder ratternd weitertransportiert zu werden und endlich auf von Staub qualmenden Haufen zu landen.
Über der ganzen Anlage stand auf einem Emailschild: ›Émile Ducrau-Werke‹.
An Wäscheleinen über den Kähnen waren Kleider zum Trocknen aufgehängt, und an Deck der ›Toison d’Or‹ goss eine junge blonde Frau kübelweise Wasser aus.
Schon fuhr der nächste Wagen der Linie 13 vorbei, dann noch einer, bis Maigret, schweißgebadet, aber mit jener wohlig-sinnlichen Wärme auf der Haut, wie man sie nur in den ersten sonnigen Apriltagen empfindet, sich endlich ohne rechte Überzeugung dem hohen Haus zuwandte. Er blickte durch die Scheiben der Loge, aber da war keine Concierge. Im Vorraum war ein dunkelroter, abgenutzter Läufer ausgelegt, die Treppenstufen waren poliert und die Wände marmoriert. Auf dem ersten Treppenabsatz zwei dunkle Türen, von denen sich die blank geputzten Messingtürgriffe als glänzende Flecken abhoben. Es roch nach Staub, nach Mittelmaß und Biederkeit. Aus dem Innenhof fiel schräg durch irgendein Oberlicht ein Sonnenstrahl ein und erfüllte das Treppenhaus mit einem warmen Licht.
Maigret klingelte in Abständen zwei- oder dreimal. Nach dem zweiten Mal hörte man von innen Geräusche, aber bis die Tür geöffnet wurde, vergingen gut fünf Minuten.
»Monsieur Ducrau, bitte.«
»Da sind Sie richtig. Treten Sie ein.«
Die Hausangestellte hatte ein rotes Gesicht, war übertrieben lebhaft, und Maigret musste bei ihrem Anblick lächeln, ohne recht zu wissen, weshalb. Sie war rundlich, nicht unansehnlich, vor allem von hinten, aber wenn man dann ihre harten, unebenmäßigen, beinahe rohen Gesichtszüge sah, war man zwangsläufig doch enttäuscht.
»Wen darf ich melden?«
»Kriminalpolizei.«
Sie machte zwei Schritte zur Tür und bückte sich, um ihre Strümpfe zu richten, dann ging sie zwei Schritte weiter und befestigte im Glauben, der Türflügel verberge sie, ihr Strumpfband, zupfte ihren Unterrock zurecht, während Maigret immer mehr lächeln musste. Nebenan wurde geflüstert. Die Hausangestellte kam zurück.
»Bitte treten Sie ein.«
Maigret setzte dieses Lächeln nicht nur auf, weil die Sonne schien. Es quoll richtiggehend aus ihm heraus und breitete sich über seine Lippen aus. Schon im Vorraum, eigentlich schon vor der Tür, war er wie von einer Ahnung erfasst worden, was nun kommen würde. Inzwischen war er sich darüber schon völlig sicher und grüßte:
»Monsieur Ducrau?«
Seine Augen lachten, und ohne es zu wollen, schnitt er ein komisches Gesicht; zwischen den beiden Männern, so schien es, war die Wahrheit von vornherein eingestanden. Ducrau sah seine Hausangestellte an, dann seinen Besucher, dann seinen mit rotem Samt bezogenen Sessel. Daraufhin strich er, obwohl sie das gar nicht nötig hatten, seine nach hinten gekämmten Haare zurecht und lächelte ebenfalls, geschmeichelt, ein wenig verlegen, aber doch ganz zufrieden.
Durch drei Fenster schien die pralle Sonne ins Zimmer; ein Fensterflügel stand weit offen und ließ den ganzen Straßenlärm und das Dröhnen des Steinbrechers eindringen, so dass Maigret, als er zu sprechen begann, sein eigenes Wort nicht verstand.
Émile Ducrau hatte sich mit einem Seufzer des Behagens wieder in seinen Sessel zurückgelehnt, und man spürte, dass er trotz allem noch nicht ganz
Weitere Kostenlose Bücher