Maigret - 29 - Maigret und sein Toter
Aus halbgeschlossenen Augen verfolgte sie jedoch aufmerksam jede Bewegung der beiden Männer.
Sie war genauso schön wie in der Nacht in der Rue du Roi-de-Sicile; nur war sie jetzt blasser, und man hatte ihr die Haare in zwei dicken Zöpfen rund um den Kopf gelegt.
Maigret legte seinen Hut auf einen Stuhl und sagte zu dem Tschechen:
»Fragen Sie sie bitte nach ihrem Namen.«
Er wartete ohne viel Hoffnung auf die Antwort. Und wirklich sah die junge Frau den Mann, der ihre Sprache sprach, nur mit einem gehässigen Blick an, ohne ein Wort zu sagen.
»Sie antwortet nicht«, sagte der Dolmetscher. »Soweit ich es beurteilen kann, ist sie nicht Tschechin, sondern Slowakin. Ich habe sie in beiden Sprachen gefragt, und sie hat nur auf die zweite reagiert.«
»Bitte sagen Sie ihr, dass ich ihr dringend empfehle, meine Fragen zu beantworten. Andernfalls müsste sie, ungeachtet ihres Zustandes, noch heute ins Gefängnisspital überführt werden.«
Der Tscheche, ganz indignierter Gentleman, straffte seine Schultern, und die Schwester, die sich im Zimmer zu schaffen machte, murmelte vor sich hin:
»Das werden wir ja sehen!«
Dann wandte sie sich an Maigret:
»Haben Sie nicht unten gelesen, dass das Rauchen hier verboten ist?«
Folgsam, wie man es ihm nicht zugetraut hätte, nahm Maigret die Pfeife aus dem Mund und ließ sie in der Hand ausgehen.
Maria hatte endlich einige Worte gesprochen.
»Bitte übersetzen Sie.«
»Sie sagt, es sei ihr gleich und sie hasse uns alle. Ich habe mich nicht getäuscht, sie ist Slowakin, Südslowakin wahrscheinlich, ein Mädchen vom Land.«
Er schien darüber erleichtert zu sein. Da es sich um ein slowakisches Bauernmädchen handelte, war seine Ehre als echter Prager Tscheche gerettet.
Maigret zog sein schwarzes Notizbuch aus der Tasche.
»Fragen Sie sie, wo sie in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober vorigen Jahres gewesen ist.«
Das saß. Ihr Blick verdüsterte sich, und sie sah den Kommissar unverwandt an. Dennoch kam kein Laut von ihren Lippen.
»Und in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember?«
Sie wurde unruhig. Man sah, wie sich ihre Brust hob und senkte. Unwillkürlich griff ihre Hand nach der Wiege, als wollte sie ihr Kind an sich drücken und beschützen.
Sie hatte etwas von einem edlen Raubtier. Nur die Schwester merkte nicht, dass sie anders war als sie alle hier, und behandelte sie wie eine ganz gewöhnliche Frau, wie jede andere Wöchnerin.
»Sind Sie noch nicht fertig mit Ihren dummen Fragen?«
»Wenn Sie die Fragen für dumm halten, dann werde ich ihr ein paar andere stellen, bei denen Sie vielleicht Ihre Meinung ändern werden, Madame – oder Mademoiselle?«
»Mademoiselle, wenn ich bitten darf.«
»Das habe ich mir gedacht. Übersetzen Sie bitte, Monsieur. In der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember ist auf einem Bauernhof in der Picardie, in Saint-Gilles-les-Vaudreuves, eine ganze Familie auf unmenschliche Weise mit dem Beil erschlagen worden. In der Nacht vom 12. zum 13. Oktober sind zwei alte Männer, zwei Bauern, auf ihrem Hof in Saint-Aubin, ebenfalls in der Picardie, auf die gleiche Weise umgebracht worden. In der Nacht vom 21. zum 22. November ist ein altes Ehepaar mitsamt seinem Knecht, einem armen Schwachsinnigen, gleichfalls mit dem Beil ermordet worden.«
»Und Sie wollen vermutlich behaupten, dass sie es gewesen ist?«
»Einen Augenblick, Mademoiselle, lassen Sie es bitte erst übersetzen, ja?«
Der Tscheche übersetzte mit angewiderter Miene, als beschmutze er sich mit der Erzählung dieser Greueltaten selbst. Schon bei seinen ersten Worten richtete sich die Frau in ihrem Bett halb auf und entblößte dabei eine Brust, ohne dass sie daran dachte, sie wieder zu verhüllen.
»Bis zum 8. Dezember wusste man nichts von den Mördern, weil es keine Überlebenden gab. Verstehen Sie, Mademoiselle?«
»Ich glaube, der Arzt hat Ihnen nur erlaubt, ein paar Minuten zu bleiben.«
»Seien Sie unbesorgt. Die ist robust. Sehen Sie sie doch an.«
Sie war immer noch schön, wie eine Wölfin oder eine Löwin, die neben ihrem Kleinen lag. So schön musste sie gewesen sein, wenn sie an der Spitze ihrer Männer auf Jagd ging.
»Übersetzen Sie bitte Wort für Wort. Am 8. Dezember ist ein neunjähriges Mädchen wie durch ein Wunder den Mördern entkommen. Das Kind konnte barfuß und im Hemd aus dem Bett schlüpfen und hat sich in einer Ecke versteckt, ohne dass jemand auf den Gedanken kam, es in diesem Versteck zu suchen. Die Kleine hat alles gesehen und gehört. Sie
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