Maigret - 29 - Maigret und sein Toter
Angst vor seiner Frau. Wenn wir ihn brauchen, können wir ihn aber jederzeit zu Hause anrufen. Er wohnt ganz in der Nähe, auf der Ile Saint-Louis, und er hat Telefon.«
Auch Francine Latour hatte Telefon. Maigret rief in ihrer Wohnung an, fest entschlossen, wieder aufzulegen, falls sie sich meldete. Aber wie er vermutet hatte, war sie nicht zu Hause.
»Willst du hingehen, Janvier? Nimm aber jemanden mit, der sehr geschickt ist. Ihr dürft auf keinen Fall auffallen.«
»Sollen wir der Wohnung einen diskreten Besuch abstatten?«
»Nicht gleich. Wartet, bis ich anrufe. Einer von euch soll in eine Bar in der Nähe gehen und mir von dort aus telefonisch die Nummer durchgeben.«
Maigret runzelte die Stirn und dachte nach, ob er auch ja nichts vergessen hatte. Die Ermittlungen bei Citroën hatten wenigstens zu einem Ergebnis geführt: Serge Madok hatte dort fast zwei Jahre lang gearbeitet.
Er ging dann zu den Inspektoren hinüber:
»Hört mal, Kinder. Heute Abend oder heute Nacht werde ich wahrscheinlich eine Menge Leute brauchen. Am besten bleibt ihr alle hier. Geht einzeln in der Nähe etwas essen, oder lasst euch Bier und Sandwiches bringen. Bis nachher. Kommst du mit, Colombani?«
»Ich dachte, du isst mit Marchand?«
»Du kennst ihn doch auch, oder?«
Marchand, der als Kartenverkäufer im Theater angefangen hatte, war nun eine der bekanntesten Persönlichkeiten von Paris; von früher hatte er ein derbes Benehmen und eine deftige Sprache zurückbehalten. Er saß bereits im Restaurant, hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt und eine große Speisekarte vor sich liegen. Als die beiden Männer hereinkamen, sagte er zum Oberkellner:
»Was ganz Leichtes, mein lieber Georges. Lass mich mal sehen … Habt ihr Rebhühner?«
»Mit Rotkohl, Monsieur Marchand.«
»Setzen Sie sich, mein Guter. Na so was! Die Sûreté ist auch mit von der Partie. Ein drittes Gedeck, mein lieber Georges! Was halten Sie beide von Rebhuhn mit Rotkohl? Und vorher Forelle blau. Sind sie noch lebendig, Georges?«
»Sie sind im Bassin, Monsieur Marchand.«
»Und vorneweg eine Horsd’œuvres-Platte, um den ersten Hunger zu stillen. Das ist alles. Zum Dessert dann ein Soufflé, wenn’s recht ist.«
Das war seine Leidenschaft. So ähnlich tafelte er immer mittags und abends, selbst wenn er allein war. Und das nannte er dann »nur schnell einen Happen essen«. Ob er erst nach der Vorstellung richtig zu Abend aß?
»Also, mein Guter, womit kann ich Ihnen dienen? In meinem Laden ist doch hoffentlich nichts faul?«
Aber zu einem ernsten Gespräch kam es vorläufig nicht, weil zuerst einmal der Weinkellner an den Tisch trat und Marchand ein paar Minuten brauchte, um den Wein auszusuchen.
»Ich bin ganz Ohr, Kinder.«
»Wenn ich Ihnen etwas sage, können Sie es für sich behalten?«
»Sie vergessen, Dicker, dass ich wahrscheinlich der Mann bin, der in Paris die meisten Geheimnisse kennt. Denken Sie daran, dass das Schicksal Hunderter, wenn nicht gar Tausender Familien in meinen Händen liegt. Ob ich schweigen kann?! Ich tue doch die ganze Zeit nichts anderes!«
Es war merkwürdig. Er redete zwar von morgens bis abends, aber es stimmte, dass er nur das sagte, was er wirklich sagen wollte.
»Kennen Sie Francine Latour?«
»Sie spielt mit Dréan in zwei unserer Sketches.«
»Was halten Sie von ihr?«
»Was soll ich von ihr halten? Das ist doch noch ein junges Gänschen. Fragen Sie mich in zehn Jahren wieder nach ihr.«
»Hat sie Talent?«
Marchand sah den Kommissar mit belustigtem Erstaunen an.
»Warum soll sie Talent haben? Ich weiß nicht genau, wie alt sie ist, aber wohl kaum über zwanzig. Sie kleidet sich schon bei den großen Modeschöpfern ein, und ich glaube sogar, dass sie bereits ein paar Brillanten besitzt. Vergangene Woche ist sie außerdem in einem Nerzmantel erschienen. Was wollen Sie noch wissen?«
»Hat sie Liebhaber?«
»Sie hat einen Freund, wie alle.«
»Kennen Sie ihn?«
»Wie sollte ich ihn nicht kennen!«
»Ein Ausländer, nicht wahr?«
»Heutzutage sind ja alle mehr oder weniger Ausländer. Fast könnte man glauben, dass Frankreich nur noch treue Ehemänner hervorbringt.«
»Hören Sie, Marchand, das Ganze ist sehr viel ernster, als Sie es sich vorstellen können.«
»Wann werden Sie ihn denn schnappen?«
»Heute Nacht, hoffe ich. Aber aus einem andern Grund, als Sie glauben.«
»Jedenfalls ist er es gewohnt. Wenn ich mich recht erinnere, ist er schon zweimal wegen ungedeckter Schecks oder etwas in der
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