Maigret - 31 - Mein Freund Maigret
messen.«
Nach diesen Worten hatten die beiden Männer lange geschwiegen, und jetzt gingen sie bis an die Spitze des Landungsstegs. Dicht bei der weißen Jacht war ein kleines Boot festgemacht, dessen Name am Heck stand: ›Liebesblume‹.
Es war van Greefs Boot, und das Paar war an Bord. Auf Deck brannte jedenfalls Licht, in der Kabine, die knapp für zwei Personen reichte und in der man nicht aufrecht stehen konnte. Man hörte von dort das Klappern von Bestecken und Geschirr. Das Paar saß beim Essen.
Als die beiden Kriminalbeamten an der Jacht vorüber waren, begann Mr. Pyke wieder zu sprechen. Er sprach langsam und jeden Satz wägend, wie es seine Art war.
»Das ist genau der Typ des jungen Mannes, der in den guten Familien als schwarzes Schaf gilt. Sie in Frankreich haben allerdings nicht viele davon.«
Maigret war äußerst überrascht, denn es war das erstemal, seit er ihn kannte, daß sein Kollege solche verallgemeinernden Bemerkungen von sich gab. Mr. Pyke selber schien ein wenig verlegen, ja fast beschämt.
»Warum haben wir die nach Ihrer Meinung in Frankreich kaum?«
»Ich möchte sagen, nicht diese Art gerade.«
Maigret merkte, wie Pyke, der am Ende des Stegs stehengeblieben war, von wo man die Berge drüben an der Küste sah, nach den richtigen Worten suchte.
»Bei Ihnen, meine ich, kann ein junger Mann aus guter Familie Dummheiten machen, weil er ein großes Leben führen möchte, sich Frauen und Autos leisten und in den Kasinos spielen will. Aber spielen Ihre schwarzen Schafe Schach? Ich bezweifle es. Lesen sie Kant, Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard? Auch das ist nicht anzunehmen, nicht wahr? Sie haben nur das Verlangen, ihr eigenes Leben zu leben, ohne die Erbschaft, die ihnen ihre Eltern hinterlassen, abzuwarten.«
Sie lehnten sich an die Mauer, die den Landungssteg auf der einen Seite abgrenzte, und die spiegelglatte Fläche des Wassers kräuselte sich nur manchmal ein wenig, wenn ein Fisch hochsprang.
»Van Greef scheint nicht zu dieser Kategorie der schwarzen Schafe zu gehören. Ich glaube nicht einmal, daß er aufs Geld versessen ist. Er ist sozusagen Anarchist. Er lehnt sich gegen alles auf, was er kennengelernt hat, gegen alles, was man ihn gelehrt hat, gegen den Beamten, der sein Vater ist, und die Bürgerin, die seine Mutter ist, gegen seine Heimatstadt, gegen die Sitten seines Landes.«
Er schwieg, und es sah fast so aus, als würde er rot.
»Verzeihen Sie.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Wir haben nur wenige Worte gewechselt, er und ich, aber ich glaube, ich habe ihn klar erkannt, weil es viele junge Leute seiner Art in meinem Lande gibt, in allen Ländern wahrscheinlich mit strenger Moral. Deshalb habe ich vorhin gesagt, daß man gewiß nicht viele dieser Art in Frankreich treffen wird. Hier gibt es keine Heuchelei. Vielleicht sogar nicht genug.«
Spielte er auf das Milieu an, in dem sie alle beide seit ihrer Ankunft hier herumtappten, auf die Emils, die Chariots, die Ginettes, die unter den anderen lebten, ohne sichtbar von der Schande gezeichnet zu sein?
Maigret war ein wenig beklommen zumute. Pykes Worte erregten ihn irgendwie, und obwohl man ihn nicht angriff, kitzelte ihn das Verlangen, sich zu verteidigen.
»Aus Protest«, fuhr Mr. Pyke fort, »verwerfen diese jungen Leute alles in Bausch und Bogen, das Gute und das Böse. Sehen Sie, er hat ein kleines Mädchen ihrer Familie entführt. Sie ist reizend, sehr begehrenswert. Dennoch glaube ich nicht, daß er das aus sinnlicher Begierde getan hat. Nein, er hat es getan, weil sie aus guter Familie war, weil sie jeden Sonntag mit ihrer Mama zur Messe ging, weil ihr Vater wahrscheinlich ein strenger und rechtschaffener Mann ist. Gerade deswegen war es ein großes Wagnis, sie zu entführen. Aber vielleicht täusche ich mich auch.«
»Ich glaube es nicht.«
»Es gibt Leute, die eine saubere und gepflegte Umgebung dazu reizt, alles zu besudeln. Van Greef hat das Verlangen, auf das Leben zu spucken, auf alles, mag es sein, was es will. Selbst seine Freundin möchte er besudeln.«
Maigret war sprachlos. Er war geradezu verstört, als er merkte, daß Mr. Pyke genau dasselbe gedacht hatte wie er selber. Als van Greef zugegeben hatte, mehrmals an Bord der ›North Star‹ gewesen zu sein, war Maigret sofort der Gedanke gekommen, daß er das nicht nur tat, um zu trinken, sondern daß intimere und recht zwielichtige Beziehungen zwischen den beiden Paaren bestanden.
»Das sind sehr gefährliche Burschen«, schloß
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