Maigret - 31 - Mein Freund Maigret
ob es richtig von mir war, herzukommen. Ich habe nicht vorausgesehen, daß Sie so mit mir sprechen würden. Ich habe Ihnen alles offen gestanden.«
Sie hatte glänzende Augen, als würde sie gleich weinen, und es war ein altes, schlecht geschminktes Gesicht, das Maigret anblickte, das Gesicht eines schmollenden Kindes.
»Sie werden ja doch tun, was Sie wollen. Ich weiß nicht, wer Marcel ermordet hat. Es ist eine Katastrophe.«
»Besonders für ihn.«
»Für ihn auch, ja. Aber er hat seinen Frieden. Werden Sie mich verhaften?«
Sie hatte das mit dem Anflug eines Lächelns gesagt, aber man merkte ihr die Angst an, eine viel größere Angst, als sie zugeben wollte.
»Im Augenblick habe ich nicht die Absicht.«
»Kann ich morgen früh zu der Beerdigung fahren? Wenn Sie es wünschen, komme ich gleich danach wieder her. Sie brauchen mir nur ein Boot an die Spitze von Giens schicken zu lassen.«
»Vielleicht werde ich das tun.«
»Werden Sie Justine nichts sagen?«
»Nicht, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, und ich glaube nicht, daß es das sein wird.«
»Ärgern Sie sich über mich?«
»Nein.«
»Doch. Ich habe es gleich gespürt, bevor ich noch von der ›Cormoran‹ herunterkam, im ersten Augenblick schon als ich Sie sah. Ich habe Sie sofort wiedererkannt. Ich war sehr bewegt, weil mir da ein ganzes Stück meines Lebens wieder lebendig wurde.«
»Ein Stück, nach dem Sie sich zurücksehnen?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich frage es mich manchmal.«
Sie erhob sich seufzend, ohne ihre Schuhe wieder anzuziehen. Sie hatte das Verlangen, ihr Korsett aufzuschnüren, wollte aber damit warten, bis der Kommissar gegangen war.
»Sie werden tun, was Sie wollen«, seufzte sie, als er die Hand nach der Türklinke ausstreckte. Und es gab ihm einen leisen Stich ins Herz, daß er sie jetzt so allein zurückließ, so alt und verängstigt, in dem kleinen Zimmer, in das durch die Luke die untergehende Sonne hereinschien, die die Tapete und die Bettdecke in einen rötlichen Schimmer tauchte, der so künstlich wie Schminke wirkte.
»Ein Schoppen Weißwein, Monsieur Maigret?«
Plötzlich war Lärm und Bewegung. Die Boulespieler, die ihre Partie auf dem Platz beendet hatten, standen um die Theke herum und sprachen sehr laut und mit starkem Akzent. In einer Ecke des Speisesaals, dicht am Fenster, saß Mr. Pyke an einem Tisch Jef van Greef gegenüber, und die beiden Männer waren ganz in eine Schachpartie versunken.
Daneben auf der Bank saß Anna und rauchte in einer langen Zigarettenspitze eine Zigarette. Sie hatte sich inzwischen angezogen, trug jetzt ein Baumwollkleidchen, das aber ebenso wie der Pareo ihren nackten Körper ahnen ließ. Sie hatte festes Fleisch, sehr ausgeprägte weibliche Formen, und man sah sie unwillkürlich im Bett vor sich.
Van Greef trug jetzt eine graue Flanellhose und einen blauweißgestreiften Pullover. Seine Füße steckten in Sandalen mit Korksohlen, wie sie fast jeder auf der Insel trug und wie sie auch der sonst so würdige Mr. Pyke sich als erstes gekauft hatte.
Maigret blickte nach dem Inspektor aus, konnte ihn aber nirgends entdecken. Es half ihm nichts, er mußte das Glas Weißwein annehmen, das Paul ihm hinschob, und die Leute an der Theke rückten zusammen, um ihm Platz zu machen.
»Nun, Kommissar?«
Man redete ihn an, und er wußte, in wenigen Minuten würde das Eis geschmolzen sein. Zweifellos warteten die Inselbewohner schon seit dem Morgen auf diesen Augenblick, um endlich seine Bekanntschaft zu machen. Sie waren ziemlich zahlreich versammelt, ein Dutzend mindestens, die meisten in Fischerkleidung. Zwei oder drei sahen etwas bürgerlicher aus; wahrscheinlich waren es kleine Rentner.
Nun, mochte Mr. Pyke denken, was er wollte, Maigret mußte trinken.
»Mögen Sie unseren Inselwein?«
»Sehr.«
»Trotzdem behaupten die Zeitungen, Sie tränken nur Bier. Marcellin meinte allerdings, das sei nicht wahr, Sie verschmähten auch einen Calvados nicht. Armer Marcellin! Auf Ihr Wohl, Kommissar.«
Paul, der Wirt, der wußte, wie das in solchen Fällen geht, behielt die Flasche in der Hand.
»Stimmt das eigentlich, daß er Ihr Freund war?«
»Ich habe ihn früher gekannt, ja. Er war kein schlechter Kerl.«
»Bestimmt nicht. Stimmt es auch, was die Zeitungen schreiben, daß er aus Le Havre war?«
»Ja.«
»Mit seinem Akzent.«
»Als ich ihn vor fünfzehn Jahren kennenlernte, hatte er keinen Akzent.«
»Hörst du, Titin, was habe ich immer gesagt?«
Vier Runden
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