Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
waren?«
»Sechs Jahre.«
»Machen Ihnen die Ladendiebstähle keinen Spaß mehr?«
»Dazu bin ich nicht mehr flink genug. Jetzt bringen sie gerade die Leiche weg.«
Man hörte Geräusche aus dem Salon; es waren tatsächlich die Leute vom Gerichtsmedizinischen Institut.
»Lange hat sie ja nicht profitiert!«
»Was meinen Sie damit?«
»Daß sie vierundzwanzig Jahre lang im Elend gelebt hat, und dann kaum zwei gute Jahre …«
»Hat sie Ihnen ihr Herz ausgeschüttet?«
»Wir plauderten miteinander, wie man es tut.«
»Hat sie Ihnen erzählt, wo sie herkam?«
»Sie ist im 18. Arrondissement geboren, auf der Straße sozusagen. Den größten Teil ihres Lebens hat sie im Chapelle-Viertel zugebracht. Als sie hier einzog, glaubte sie, nun finge das schöne Leben für sie an.«
»Sie war also nicht glücklich?«
Die Putzfrau zuckte die Achseln und sah Maigret fast mitleidig an, als hätte sie nicht gedacht, daß er so schwer von Begriff sei.
»Glauben Sie etwa, daß es lustig für sie war, in einem Haus wie dem da zu leben, wo die Leute nicht einmal einen Blick für sie hatten, wenn sie ihr auf der Treppe begegneten?«
»Warum ist sie dann hierhergezogen?«
»Sie wird ihre Gründe gehabt haben.«
»Hat sie sich von dem Musiker aushalten lassen?«
»Wer hat Ihnen von dem Musiker erzählt?«
»Ganz gleich wer. Pierrot spielte Saxophon?«
»Ich glaube, ja. Ich weiß, daß er in einer Tanzbar spielt.«
Sie sagte nur, was sie sagen wollte. Jetzt, da sich Maigret eine etwas genauere Vorstellung von Louise Filon machen konnte, war er davon überzeugt, daß die beiden Frauen jeden Morgen offenherzig miteinander geplaudert hatten.
»Ein kleiner Musiker in einer Tanzbar dürfte kaum in der Lage sein, die Miete für eine Wohnung wie die hier zu bezahlen, nehme ich an.«
»Das meine ich auch.«
»Also?«
»Also muß es noch jemand anderen gegeben haben«, ließ sie gleichmütig fallen.
»Pierrot ist gestern abend hier gewesen.«
Sie zuckte nicht mit der Wimper und sah ihn fest an.
»Ich nehme an, das heißt für Sie, daß er es war, oder? Ich kann Ihnen nur das eine sagen: Die beiden haben sich geliebt.«
»Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Sie liebten sich nicht nur – sie träumten davon zu heiraten!«
»Und warum taten sie es nicht?«
»Vielleicht, weil sie kein Geld hatten. Vielleicht auch, weil der andere sie nicht freigab.«
»Welcher andere?«
»Sie wissen ebensogut wie ich, daß ich den meine, der zahlte. Oder muß ich noch deutlicher werden?«
Maigret hatte eine Idee. Er ging ins Schlafzimmer, öffnete den Wandschrank und nahm ein Paar Männerpantoffeln aus Chevreauleder heraus. Sie waren in der Rue St. Honoré angefertigt worden, von einem der teuersten Schuhmacher von Paris. In dem braunen Schlafrock aus schwerer Seide, den er vom Haken nahm, fand er die Etikette eines Herrenmodegeschäfts in der Rue de Rivoli.
Moers, dessen Leute schon weg waren, wartete im Salon auf Maigret.
»Was hast du gefunden?«
»Fingerabdrücke natürlich, alte und neuere.«
»Von einem Mann?«
»Von mindestens einem. In einer Stunde haben wir die Fotos.«
»Gib sie dann an die Kartei weiter. Nimm die Pantoffeln und den Schlafrock mit und übergib sie Janvier oder Torrence. Ich möchte, daß man sie den Inhabern der Läden zeigt, aus denen sie stammen.«
»Mit den Pantoffeln wird es vermutlich keine Schwierigkeiten geben; die Seriennummer steht ja noch drauf.«
In der Wohnung herrschte wieder Stille, und Maigret ging in die Küche zurück, um die Putzfrau zu holen.
»Sie brauchen nicht mehr hierzubleiben.«
»Kann ich die Wohnung putzen?«
»Heute noch nicht.«
»Kann ich sonst etwas tun?«
»Gehen Sie nach Hause. Ich verbiete Ihnen aber, Paris zu verlassen. Es könnte sein, daß …«
»Ich verstehe.«
»Sind Sie sicher, daß Sie mir nichts mehr zu sagen haben?«
»Wenn mir noch etwas einfallen sollte, werde ich Sie benachrichtigen.«
»Noch eine Frage: Haben Sie von dem Augenblick an, als Sie die Leiche fanden, bis zur Ankunft des Polizeikommissars die Wohnung bestimmt nicht verlassen?«
»Ich schwöre es.«
»Und es ist auch niemand gekommen?«
»Keine Menschenseele.«
Sie nahm eine Einkaufstasche vom Haken, die sie wohl immer bei sich hatte, und Maigret überzeugte sich, daß sie keinen Revolver enthielt.
»Durchsuchen Sie mich, wenn Sie Lust dazu haben.«
Er tat es nicht; aber um der Pflicht Genüge zu tun, tastete er – wenn auch nicht ohne Verlegenheit – ihr lose herabhängendes Kleid
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