Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
suchten.
Er wusste, dass die Richter im Zimmer des Vorsitzenden berieten, und er sah, wie ein Gerichtsdiener den jungen Duché dorthin führte, den man anscheinend hatte rufen lassen.
Es war gleich Mittag. Bernerie wollte offenbar mit dem Zwischenfall die Vormittagsverhandlung abschließen, um am Nachmittag den regulären Verlauf des Prozesses wiederaufnehmen und vielleicht noch am selben Tag das Urteil verkünden zu können.
Maigret erreichte die Galerie, zündete sich endlich seine Pfeife an und winkte Lapointe zu sich, der an einer Säule lehnte.
Er war nicht der Einzige, der diese Pause nutzen wollte, um ein Bier zu trinken. Draußen sah man Leute mit hochgeschlagenem Kragen im Regen über die Straße laufen und dann in einem der nahegelegenen Cafés verschwinden.
In der Kantine des Palais de Justice drängte sich eine ungeduldige Menge zwischen die Anwälte und ihre Mandanten, die noch wenige Augenblicke zuvor in aller Ruhe über alltägliche Angelegenheiten gesprochen hatten.
»Ein Bier?«, fragte er Lapointe.
»Wenn wir eins kriegen, Chef.«
Sie schoben sich zwischen die Rücken und Ellbogen. Maigret gab einem Kellner, den er seit zwanzig Jahren kannte, ein Zeichen, und wenige Augenblicke später reichte man ihm über die Köpfe der anderen hinweg zwei schäumende Bier.
»Du musst in Erfahrung bringen, wo sie zu Mittag isst und mit wem, mit wem sie spricht und mit wem sie möglicherweise telefoniert.«
Der Ansturm ließ bereits nach, und die Leute eilten in den Saal zurück, um ihre Plätze wieder einzunehmen. Als der Kommissar den Verhandlungssaal erreichte, war es zu spät, um noch zu den Sitzreihen zu gelangen, und so musste er unter den Anwälten an der kleinen Tür stehen bleiben.
Die Geschworenen waren wieder auf ihren Plätzen, auch der Angeklagte saß wieder zwischen seinen Bewachern und sein Verteidiger eine Reihe vor ihm. Die Richter kamen herein und nahmen mit würdevoller Miene Platz; sicher waren sie sich, genau wie der Kommissar, dessen bewusst, dass die Stimmung umgeschlagen hatte.
Vorhin war es um einen Mann gegangen, der angeklagt wurde, seiner Tante, einer zweiundsechzigjährigen Frau, die Kehle durchgeschnitten und ein vierjähriges Mädchen nach einem Versuch, es zu erwürgen, mit Kissen erstickt zu haben. Es war also nur allzu verständlich, dass im Saal eine düstere und bedrückende Stimmung herrschte.
Jetzt, nach der Pause, war alles verändert. Gaston Meurant war in den Hintergrund gerückt, und selbst der Doppelmord hatte an Bedeutung verloren. Die Aussage Maigrets hatte einen neuen Aspekt eingebracht, neue Fragen aufgeworfen, die auf einen Skandal deuteten, das Auditorium interessierte sich nur noch für die junge Frau, und die Zuhörer in den letzten Reihen versuchten vergeblich, einen Blick auf sie zu werfen.
Das war der Grund für die spürbare Unruhe, und man sah, wie der Vorsitzende einen strengen Blick über die Menge schweifen ließ, als wollte er die Unruhestifter bloßstellen.
Das alles dauerte ziemlich lang, und je mehr Zeit verging, desto gedämpfter wurden die Geräusche, bis sie schließlich verebbten und wieder Ruhe herrschte.
»Ich mache das Publikum darauf aufmerksam, dass ich keinerlei Kundgebung dulden und beim ersten Zwischenfall den Saal räumen lassen werde.«
Er hüstelte und flüsterte seinen Beisitzern etwas zu.
»Aufgrund meiner Befugnisse und in Übereinstimmung mit dem Generalstaatsanwalt sowie der Verteidigung habe ich mich entschlossen, drei neue Zeugen zuzulassen. Zwei befinden sich im Saal, die dritte Zeugin, Geneviève Lavancher, die telefonisch vorgeladen wurde, wird heute Nachmittag vor Gericht erscheinen. Gerichtsdiener, rufen Sie bitte Madame Ginette Meurant auf.«
Der alte Mann ging durch den freien Durchgang auf die junge Frau zu, die in der ersten Reihe saß, sich erhob, zögerte und sich dann zum Zeugenstand führen ließ.
Maigret hatte sie wiederholt am Quai des Orfèvres vernommen. Damals hatte er eine kleine Frau vor sich gehabt, die eine vulgäre und zuweilen auch aggressive Koketterie an den Tag gelegt hatte.
Um dem Schwurgericht alle Ehre zu erweisen, hatte sie sich extra ein schwarzes Kostüm mit dreiviertellanger Jacke gekauft; den einzigen Farbfleck bildete die strohgelbe Bluse.
Maigret war überzeugt, dass sie aus demselben Grund, aber auch um eine gepflegte Erscheinung abzugeben, einen maßgefertigten Hut trug, der ihrem Gesicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Man hatte den Eindruck, dass sie gleichsam zwei
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