Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
Rollen spielte: die naive Kleinmädchenrolle und die Rolle der feinen Dame. Sie senkte den Kopf, hob ihn wieder, um den Vorsitzenden mit Rehaugen anzusehen.
»Sie sind Ginette Meurant, geborene Chenault?«
»Ja, Herr Vorsitzender.«
»Sprechen Sie lauter, und drehen Sie sich zu den Herren Geschworenen um. Sie sind siebenundzwanzig und in Saint-Sauveur im Département Nièvre geboren?«
»Ja, Herr Vorsitzender.«
»Sind Sie die Ehefrau des Angeklagten?«
Sie antwortete immer noch mit der Stimme einer Musterschülerin.
»Laut Paragraph 332 können Sie nicht als Zeugin vernommen werden, aber in Übereinstimmung mit dem Staatsanwalt und der Verteidigung ist das Gericht berechtigt, Sie zu befragen, um eine Auskunft zu erhalten.«
Als sie die Hand hob, wie sie es bei den früheren Zeugen gesehen hatte, wehrte er ab.
»Nein! Sie dürfen keinen Eid leisten.«
Maigret entdeckte zwischen zwei Köpfen Meurants blasses Gesicht. Er hatte das Kinn in die Hände gestützt und starrte vor sich hin. Hin und wieder presste er seine Kiefer so fest zusammen, dass die Muskeln hervortraten. Seine Frau vermied es, ihn anzusehen, als sei das verboten; sie hatte ihren Blick fest auf Bernerie gerichtet.
»Kennen Sie das Opfer, Léontine Faverges?«
Sie schien zu zögern, bevor sie leise antwortete:
»Nicht sehr gut.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass wir nichts miteinander zu tun hatten.«
»Sie sind ihr aber begegnet?«
»Das erste Mal vor unserer Hochzeit. Mein Verlobter hatte darauf bestanden, mich ihr vorzustellen, und gesagt, sie sei seine einzige Verwandte.«
»Sie sind also in der Rue Manuel gewesen?«
»Ja. Nachmittags, gegen fünf. Sie hat uns Schokolade und Kuchen angeboten. Ich habe gleich gemerkt, dass sie mich nicht mochte und dass sie Gaston raten würde, mich nicht zu heiraten.«
»Und warum nicht?«
Sie zuckte die Achseln, suchte nach Worten und sagte schließlich:
»Wir waren zu verschieden.«
Einige fingen an zu lachen, verstummten aber sofort wieder, als Bernerie seinen Blick über die Bankreihen schweifen ließ.
»Sie war nicht bei Ihrer Hochzeit?«
»Doch.«
»Und Alfred Meurant, Ihr Schwager?«
»Er war auch dabei. Er lebte damals in Paris und hatte den Kontakt zu meinem Mann noch nicht abgebrochen.«
»Was war er von Beruf?«
»Handelsvertreter.«
»Hatte er eine regelmäßige Beschäftigung?«
»Woher soll ich das wissen? Er hat uns ein Kaffeeservice zur Hochzeit geschenkt.«
»Haben Sie Léontine Faverges anschließend noch einmal wiedergesehen?«
»Vier- oder fünfmal.«
»Ist sie zu Ihnen gekommen?«
»Nein. Wir sind zu ihr gegangen. Ich hatte keine Lust dazu, denn ich hasse es, mich Leuten aufzudrängen, die mich nicht mögen, aber Gaston hat behauptet, ich müsse das tun.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.«
»War es vielleicht wegen ihres Geldes?«
»Schon möglich.«
»Wie lange sind Sie nicht mehr in der Rue Manuel gewesen?«
»Sehr lange.«
»Zwei Jahre? Drei Jahre? Vier Jahre?«
»Vermutlich drei Jahre.«
»Sie wussten also von der chinesischen Vase, die im Wohnzimmer stand?«
»Ich habe sie gesehen, und ich habe sogar noch zu Gaston gesagt, dass künstliche Blumen eigentlich nur zu einem Beerdigungskranz passen.«
»Haben Sie gewusst, was in der Vase war?«
»Ich habe nur von den Blumen gewusst.«
»Hat Ihnen Ihr Mann nie etwas gesagt?«
»Meinen Sie über die Vase?«
»Über die Goldstücke.«
Zum ersten Mal drehte sie sich zur Anklagebank um.
»Nein.«
»Hat er Ihnen auch nicht anvertraut, dass seine Tante ihr Geld zu Hause aufbewahrt, statt es zur Bank zu bringen?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Sie sind sich aber nicht sicher?«
»Doch … Ja …«
»War die kleine Cécile Perrin zu der Zeit, als Sie noch, wenn auch selten, in die Rue Manuel gingen, schon dort in Pflege?«
»Ich habe sie nie gesehen. Sie wäre zu diesem Zeitpunkt noch zu klein gewesen.«
»Hat Ihr Mann manchmal von ihr erzählt?«
»Er hat sie bestimmt mal erwähnt. Warten Sie! Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe mich sogar noch darüber gewundert, dass man einer Frau wie ihr ein Kind anvertrauen kann.«
»Wussten Sie, dass der Angeklagte seine Tante öfter um Geld gebeten hat?«
»Das hat er mir nicht immer gesagt.«
»Aber grundsätzlich wussten Sie darüber Bescheid?«
»Ich wusste, dass er kein allzu guter Geschäftsmann ist, dass er sich von allen übers Ohr hauen ließ, wie damals, als wir in der Rue du Chemin-Vert ein Restaurant eröffnet haben, das
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