Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
vorbeigehen zu sehen.
Maigret bemerkte von weitem, dass Rechtsanwalt Lamblin ihr auf den Fersen blieb und dass sie sich von Zeit zu Zeit umdrehte, um sich zu vergewissern, dass er ihr folgte.
Der Kommissar war kaum aus dem Saal gegangen, als er auf Janvier stieß und ihm einen fragenden Blick zuwarf.
»Man hat sie geschnappt, Chef. Sie sind beide am Quai.«
Maigret brauchte eine Weile, bis er begriff, dass es sich um einen anderen Fall handelte, einen Raubüberfall auf eine Bankfiliale im 20. Arrondissement.
»Was ist passiert?«
»Lucas hat sie bei der Mutter des einen Jungen verhaftet. Der andere hatte sich unter dem Bett versteckt, ohne dass die Mutter es wusste. Seit drei Tagen hatten sie das Haus nicht mehr verlassen. Die arme Frau dachte, ihr Sohn ist krank, und hat ihm Grogs gemacht. Sie ist die Witwe eines Eisenbahners und arbeitet in einer Drogerie im Viertel …«
»Wie alt?«
»Der Sohn achtzehn. Sein Kumpel zwanzig.«
»Streiten sie alles ab?«
»Ja. Ich glaube allerdings, dass Sie schnell mit ihnen fertig werden.«
»Isst du mit mir zu Mittag?«
»Ich habe meiner Frau schon vorsorglich gesagt, dass ich nicht nach Hause komme.«
Es regnete immer noch, als sie die Place Dauphine überquerten und auf die Brasserie zugingen, die zu einer Art Dependance der Kriminalpolizei geworden war.
»Und bei Gericht?«
»Noch nichts Eindeutiges.«
Sie warteten an der Theke, bis ein Tisch frei wurde.
»Ich werde Bernerie anrufen müssen, damit er mir erlaubt, den Verhandlungen am Nachmittag fernzubleiben.«
Maigret hatte keine Lust, am Nachmittag untätig in der feuchten Wärme zwischen den Zuhörern zu sitzen und die Zeugenaussagen anzuhören, die nun nichts Unvorhergesehenes mehr bringen würden. Er hatte diese Zeugen bereits in seinem ruhigen Büro vernommen. Und die meisten von ihnen hatte er sogar in ihrer häuslichen Umgebung erlebt.
Das Schwurgericht war für ihn immer der anstrengendste und unerfreulichste Part seiner Tätigkeit, und jedes Mal überfiel ihn dort die gleiche Beklemmung.
Ergab nicht alles dort ein schiefes Bild? Schuld daran waren nicht die Richter, die Geschworenen oder die Zeugen, auch nicht das Strafgesetzbuch oder die Prozessordnung. Das Problem lag eher darin, dass hier menschliche Wesen gewissermaßen auf ein paar wenige Sätze, ein paar Urteile reduziert wurden.
Manchmal hatte er mit seinem Freund Pardon darüber diskutiert, dem Arzt in seinem Viertel, mit dem seine Frau und er regelmäßig einmal im Monat zu Abend aßen.
Eines Tages, als sich sein Wartezimmer einfach nicht geleert hatte, hatte Pardon seinem Unmut und seiner Frustration Luft gemacht.
»Achtundzwanzig Patienten an einem einzigen Nachmittag! Nicht einmal genügend Zeit, um sie Platz nehmen zu lassen und ein paar Fragen zu stellen. Wie geht es Ihnen? Wo tut es weh? Seit wann haben Sie Beschwerden? Die anderen Patienten im Wartezimmer starren auf die gepolsterte Tür und fragen sich, ob sie jemals drankommen. – Strecken Sie die Zunge raus! Machen Sie den Oberkörper frei! In den meisten Fällen würde noch nicht einmal eine Stunde ausreichen, um alles herauszufinden, was man wissen müsste. Jeder Kranke ist ein Fall für sich, und ich bin gezwungen, wie am Fließband zu arbeiten …«
Maigret hatte ihm dann erzählt, wo er bei seiner Arbeit an seine Grenzen stieß, nämlich beim Schwurgericht, weil dort die meisten Ermittlungen abgeschlossen werden.
»Historiker«, hatte er ausgeführt, »und Gelehrte widmen ihr ganzes Leben dem Studium einer Persönlichkeit aus der Vergangenheit, über die es bereits eine Vielzahl von Werken gibt. Sie gehen von Bibliothek zu Bibliothek, von einem Archiv zum anderen, durchforschen die nebensächlichsten Briefe, in der Hoffnung, der Wahrheit ein Stück näherzukommen …
Seit mehr als fünfzig Jahren erforscht man Stendhals Korrespondenz, um ein genaueres Bild seiner Persönlichkeit zu erhalten …
Wird ein Verbrechen nicht fast immer von einem ungewöhnlichen Menschen begangen, das heißt von einem Menschen, der schwerer zu durchschauen ist als der Mann auf der Straße? Ich habe immer nur ein paar Wochen oder manchmal auch nur ein paar wenige Tage, um mich mit einem neuen Milieu vertraut zu machen, um zehn, zwanzig, fünfzig Personen zu verhören, von denen ich bis dahin nichts wusste, und um, sofern das möglich ist, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.
Man hat mir vorgeworfen, dass ich immer persönlich zum Tatort fahre, anstatt meine Inspektoren hinzuschicken. Es
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