Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
gegangen, und ich habe ihn nicht mehr gesehen.
Ich vermute, dass er vorsichtshalber abgehauen ist, denn ich habe ein Auto wegfahren hören.«
»Sie haben keine Ahnung, was oben im Zimmer vorgegangen ist?«
»Nur dass die beiden anderthalb Stunden da eingeschlossen blieben. Und am Ende klang es so, als ob Gaston Meurant seine Fassung wieder zurückgewonnen hätte, während sein Bruder jetzt ganz kleinlaut zu sein schien.
Als sie herunterkamen, war ich mit dem Essen fertig. Alfred Meurant hatte eine finstere Miene aufgesetzt, als sei die Sache nicht so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte, sein Bruder hingegen wirkte entspannter als bei seinem Eintreffen.
›Trinkst du ein Glas mit?‹, fragte Alfred ihn.
›Nein, danke.‹
›Willst du schon wieder gehen?‹
›Ja.‹
Beide haben mich mit fragendem Blick angeschaut.
›Ich fahr dich mit dem Auto in die Stadt zurück.‹
›Das ist nicht nötig.‹
›Soll ich dir ein Taxi bestellen?‹
›Nein, danke.‹
Ihre Unterhaltung wirkte irgendwie gezwungen, und es war offensichtlich, dass ihre Worte nur eine Leere überspielen sollten.
Gaston Meurant hat die Pension verlassen. Sein Bruder hat die Tür hinter ihm geschlossen und war drauf und dran, etwas zur Wirtin und zu Falconi zu sagen, als er mich sah und sich die Bemerkung verkniff.
Ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Ich habe mich nicht getraut, den Chef anzurufen und ihn um Instruktionen zu bitten. Ich habe es für richtiger gehalten, Gaston Meurant zu folgen. Also bin ich rausgegangen, wie jemand, der nach dem Essen frische Luft schnappen will, und habe meinen Rucksack dagelassen.
Ich habe Gaston schnell eingeholt. Er ist die Straße hinuntermarschiert in Richtung Stadtzentrum.
Am Boulevard de la République hat er eine Pause gemacht, um eine Kleinigkeit zu essen. Dann ist er zum Bahnhof gegangen, um sich nach den Abfahrtszeiten der Züge zu erkundigen. Anschließend hat er im ›Hôtel des Voyageurs‹ seinen Aktenkoffer geholt und seine Rechnung bezahlt.
Seitdem wartet er. Er liest keine Zeitung und macht nichts, außer mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin zu starren. Er macht zwar nicht gerade ein freudiges Gesicht, aber er scheint auch nicht unzufrieden mit sich zu sein.«
»Warten Sie noch, bis er in den Zug steigt, und geben Sie mir dann seine Wagennummer durch.«
»In Ordnung. Morgen früh werde ich dem Kommissar meinen Bericht geben.«
Inspektor Le Goënec wollte schon auflegen, als Maigret noch etwas einfiel.
»Sorgen Sie dafür, dass überprüft wird, ob Alfred Meurant in seiner Pension bleibt.«
»Soll ich dahin zurückkehren? Glauben Sie nicht, dass die Lunte gerochen haben?«
»Es genügt, wenn jemand von Ihnen das Haus überwacht. Ich möchte auch, dass die Telefongespräche abgehört werden. Wenn eine Verbindung nach Paris oder ein anderes Ferngespräch angemeldet wird, möchte ich sofort benachrichtigt werden.«
Die Routinearbeit begann von neuem, diesmal in umgekehrter Richtung: Marseille, Avignon, Lyon, Dijon waren informiert. Man ließ Gaston Meurant alleine reisen, wie einen Erwachsenen, aber eine Person nach der anderen nahm ihn gewissermaßen in ihre Obhut.
Er würde erst um halb zwölf in Paris eintreffen.
Maigret ging zu Bett und hatte das Gefühl, kaum geschlafen zu haben, als seine Frau ihn weckte und ihm die erste Tasse Kaffee brachte. Der Himmel war endlich wieder klar, und über den Dächern auf der anderen Straßenseite sah man die Sonne. Die Leute auf den Bürgersteigen gingen beschwingter.
»Kommst du zum Essen nach Hause?«
»Ich glaube nicht. Ich rufe dich vorher noch an.«
Ginette Meurant hatte die Rue Delambre nicht verlassen. Die meiste Zeit verbrachte sie im Bett, sie kam nur herunter, um essen zu gehen und ihre Vorräte an Illustrierten und Groschenromanen aufzustocken.
»Nichts Neues, Maigret?«, erkundigte sich der Staatsanwalt beunruhigt.
»Noch nichts Konkretes, aber es würde mich nicht wundern, wenn schon bald etwas passieren würde.«
»Was macht Meurant?«
»Er sitzt im Zug.«
»In welchem Zug?«
»In dem aus Toulon. Er kommt zurück. Er hat seinen Bruder besucht.«
»Was ist zwischen ihnen vorgefallen?«
»Sie hatten ein langes Gespräch miteinander, am Anfang waren sie anscheinend sehr erregt, dann haben sie sich beruhigt. Der Bruder ist offensichtlich unzufrieden, während Gaston Meurant den Anschein erweckt, endlich zu wissen, wo es langgeht.«
Was hätte Maigret anderes sagen sollen? Er war nicht in der
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