Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
dennoch anscheinend irgendeine fixe Idee. Er stellt sich ungeschickt an. Bisher war er in einem Dutzend Cafés und Bars. Jedes Mal bestellt er Mineralwasser. Er sieht dermaßen aus wie ein Bittsteller, dass man ihn überall schief ansieht. Er stellt immer die gleiche Frage:
›Kennen Sie Alfred Meurant?‹
Die Barkeeper und Kellner werden misstrauisch, vor allem die, die Alfred Meurant kennen. Manche antworten mit einer undeutlichen Handbewegung, andere fragen:
›Was macht er beruflich?‹
›Ich weiß nicht. Er lebt in Toulon.‹
Mein Inspektor, der ihm Schritt für Schritt folgt, bekommt allmählich Mitleid mit ihm und würde ihm am liebsten auf die Sprünge helfen. Bei dem Tempo, mit dem Meurant vorgeht, kann es noch eine ganze Weile dauern, und er wird noch am Mineralwasser zugrunde gehen.«
Maigret kannte Toulon gut genug, um mindestens drei Orte zu kennen, wo Meurant etwas über seinen Bruder hätte in Erfahrung bringen können. Der Rahmenmacher lief übrigens am Ende doch noch in die richtige Gegend. Wenn er weiter den kleinen Straßen folgte, die vom Quai Cronstadt abzweigen, oder wenn ihn der Zufall zum Mourillon führte, würde er sicher die Auskunft erhalten, hinter der er so hartnäckig her war.
In der Rue Delambre hatte Ginette Meurant die Vorhänge aufgezogen, Kaffee und Croissants bestellt und sich wieder ins Bett gelegt, um zu lesen.
Sie rief weder Rechtsanwalt Lamblin noch sonst jemanden an. Sie versuchte auch nicht zu erfahren, was aus ihrem Mann geworden war oder ob die Polizei sich immer noch mit ihr beschäftigte. Würde sie nicht bald die Nerven verlieren?
Der Anwalt seinerseits unternahm nichts und ging seinen gewohnten Beschäftigungen nach.
Plötzlich hatte Maigret eine Idee, er betrat das Büro der Inspektoren und wandte sich an Lucas.
»Um wie viel Uhr war sie gestern bei ihrem Anwalt?«
»Gegen elf, wenn ich mich recht entsinne. Ich kann im Bericht nachsehen.«
»Das ist nicht nötig. Jedenfalls war da noch Zeit, um eine Annonce in einer der Abendzeitungen aufzugeben. Beschaff dir alle Zeitungen des Vortages, auch die von heute Morgen und nachher die von heute Abend. Sieh dir genau die Kleinanzeigen an.«
Lamblin stand nicht in dem Ruf, schnell Skrupel zu haben. Würde er zögern, wenn Ginette ihn gebeten hätte, eine Anzeige aufzugeben? Das war kaum anzunehmen.
Wenn Maigrets Überlegung richtig war, würde das bedeuten, dass sie die momentane Adresse ihres ehemaligen Liebhabers nicht kannte.
Wenn sie sie aber kannte, wenn er sich seit März dort aufhielt, hatte dann Lamblin nicht an ihrer Stelle mit ihm telefoniert? Oder hatte sie es nicht selbst tun können, als sie sich zwanzig Minuten in seiner Kanzlei aufgehalten hatte?
Über ein Detail hatte sich der Kommissar seit Beginn der Ermittlung im Frühjahr gewundert. Das Verhältnis zwischen der jungen Frau und dem von Nicolas Cajou beschriebenen Mann hatte monatelang bestanden. Den ganzen Winter über hatten sie sich mehrmals in der Woche getroffen, was darauf hindeutete, dass der Geliebte in Paris wohnte.
Dennoch trafen sie sich stets in einem Stundenhotel.
Musste man daraus schließen, dass der Mann aus diesem oder jenem Grunde seine Geliebte nicht bei sich zu Hause empfangen konnte?
War er verheiratet? Wohnte er nicht allein?
Maigret hatte keine Antwort darauf gefunden.
»Versuch auf alle Fälle herauszubekommen«, sagte er zu Lucas, »ob gestern bei Lamblin nach Toulon telefoniert worden ist.« Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten. In Toulon suchte Gaston Meurant immer noch, und es war halb fünf, als er endlich in einem kleinen Café, vor dem Boule gespielt wurde, die gewünschte Auskunft erhielt. Der Kellner zeigte ihm den Hügel und lieferte umständliche Erklärungen ab.
Maigret wusste inzwischen, dass der Bruder, Alfred Meurant, wirklich in Toulon war und dass er die Pension Eucalyptus seit mehr als einer Woche nicht verlassen hatte.
Er gab Kommissar Blanc seine Instruktionen.
»Haben Sie unter Ihren Inspektoren einen jungen Mann, den diese Leute nicht kennen?«
»Meine Mitarbeiter bleiben nie lange unbekannt, aber ich habe einen, der erst seit drei Tagen hier ist. Er kommt aus Brest, er soll sich vor allem um das Waffenlager kümmern. Den kennt bestimmt noch keiner.«
»Schicken Sie ihn zu der Pension.«
»In Ordnung. Er wird vor Meurant dort sein, denn der arme Junge hat sich entweder aus Sparsamkeitsgründen oder weil er keine Ahnung von der Entfernung hat, zu Fuß auf den Weg gemacht. Da
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