Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
…«
»War Ihr Vater damals schon verwitwet?«
»Meine Mutter ist gestorben, als ich vierzehn war …«
»Haben Sie danach weiterhin bei Ihrem Vater gewohnt?«
»Ein paar Jahre noch. Mit siebzehn bin ich von zu Hause weg …«
»Warum?«
»Weil wir uns nicht gut verstanden haben.«
»Gab es dafür einen besonderen Grund?«
»Nein … Er ging mir auf die Nerven … Er wollte, dass ich Bahnbeamter würde wie er selbst, und dagegen habe ich mich gesträubt … Er fand, dass ich mit Lesen und Studieren nur meine Zeit verplempere …«
»Haben Sie Abitur gemacht?«
»Ich bin zwei Jahre vorher von der Schule abgegangen …«
»Warum denn das? … Wo haben Sie dann gewohnt? … Wovon haben Sie gelebt?«
»Sie bedrängen mich«, jammerte Ricain.
»Ich bedränge Sie überhaupt nicht. Ich stelle nur ganz grundsätzliche Fragen.«
»Ich habe alles Mögliche gemacht … Erst war ich Zeitungsjunge … Dann Laufbursche bei einer Druckerei in der Rue Montmartre … Eine Zeitlang bin ich bei einem Freund untergekommen, der seine Bude mit mir geteilt hat …«
»Wie ist sein Name? Seine Adresse?«
»Bernard Fléchier … Er hatte ein Zimmer in der Rue Coquillière. Ich habe ihn aus den Augen verloren …«
»Wovon hat er gelebt?«
»Er hatte ein Lieferdreirad …«
»Und danach?«
»Drei Monate lang habe ich in einem Schreibwarengeschäft gearbeitet … Ich habe kleine Erzählungen geschrieben, die ich an Zeitungsredaktionen geschickt habe … Eine wurde genommen, und ich habe dafür hundert Franc bekommen … Der zuständige Redakteur konnte es gar nicht fassen, dass ich noch so jung war …«
»Hat er denn keine weiteren Erzählungen von Ihnen genommen?«
»Nein … Die anderen wurden abgelehnt …«
»Wie haben Sie Ihren Lebensunterhalt verdient, als Sie Ihre Frau kennengelernt haben, ich meine das Mädchen, das Ihre Frau werden sollte, Sophie Le Gal, so hieß sie doch?«
»Ich war dritter Assistent bei den Dreharbeiten für einen Film, der dann von der Zensur verboten wurde. Es war ein Kriegsfilm, den ein ganz junges Team gemacht hatte …«
»Hat Sophie gearbeitet?«
»Nicht regelmäßig … Sie war Komparsin … Ab und zu hat sie auch Modell gestanden …«
»Hat sie allein gelebt?«
»Ja, in einer Pension in Saint-Germain-des-Prés …«
»War es Liebe auf den ersten Blick?«
»Nein. Wir haben miteinander geschlafen, weil wir einmal nach einer Party um drei Uhr nachts allein auf der Straße gestanden haben … Sie hat mich mit auf ihr Zimmer genommen … Wir sind mehrere Monate zusammengeblieben, und eines Tages sind wir auf die Idee gekommen zu heiraten …«
»Waren ihre Eltern einverstanden?«
»Die hatten nicht viel zu sagen … Sie ist nach Concarneau gegangen und hat sich von ihrem Vater die schriftliche Heiratserlaubnis geholt …«
»Und Sie?«
»Ich habe auch meinen Vater besucht.«
»Was hat er dazu gesagt?«
»Er hat nur die Achseln gezuckt …«
»Ist er zur Hochzeit gekommen?«
»Nein … Es kamen nur ein paar Freunde, drei oder vier … Abends haben wir dann zusammen in den Halles gegessen …«
»Hatte Sophie, bevor Sie sie getroffen haben, einen festen Freund?«
»Der Erste war ich nicht, falls Sie das meinen!«
»Hat sie nicht eine Zeitlang mit einem Mann zusammengelebt, der so an ihr hing, dass er sie unbedingt wiedersehen wollte?«
Er schien in seinem Gedächtnis zu kramen.
»Nein … Wir haben zwar ehemalige Freunde von ihr getroffen, aber die große Liebe war nicht darunter … Wissen Sie, während der vier Jahre haben wir mit allen möglichen Leuten verkehrt … Mit manchen waren wir ein halbes Jahr lang befreundet, dann sind sie wieder von der Bildfläche verschwunden … Dafür sind andere gekommen … Ab und zu ist man sich dann wieder über den Weg gelaufen …
Sie stellen diese Fragen, als wäre das alles ganz einfach … Sie lassen meine Antworten mitschreiben … Wenn ich mich irre, mich verhasple, ein Detail vergesse, werden Sie daraus sofort was weiß ich für Schlüsse ziehen … Sie müssen zugeben, dass das nicht gerade fair ist …«
»Wäre es Ihnen lieber, in Anwesenheit eines Anwalts vernommen zu werden?«
»Habe ich ein Anrecht darauf?«
»Wenn Sie sich selber für verdächtig halten …«
»Und Sie? … Wofür halten Sie mich? …«
»Für den Ehemann einer Frau, die eines gewaltsamen Todes gestorben ist … Für einen jungen Mann, der die Nerven verloren und mir meine Brieftasche gestohlen hat, um sie mir dann mit ihrem gesamten Inhalt
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