Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
Einzimmerappartements. Neugierige, die von uniformierten Polizisten in einiger Entfernung gehalten wurden, starrten zu ihnen hinüber.
Der stellvertretende Staatsanwalt Dréville und Untersuchungsrichter Camus unterhielten sich mit Piget, dem Polizeikommissar des 15. Arrondissements. Alle kamen eben vom Essen, hatten ein mehr oder weniger üppiges Mahl zu sich genommen, und da sich die Desinfizierung der Wohnung in die Länge zog, warfen sie immer wieder einen Blick auf ihre Armbanduhren.
Der Gerichtsarzt hieß Doktor Delaplanque. Er war noch nicht lange bei der Polizei, aber Maigret schätzte ihn sehr und stellte ihm deshalb einige Fragen. Ungeachtet des Gestanks und der Fliegen hatte Delaplanque keinen Augenblick gezögert, die Leiche bereits an Ort und Stelle einer ersten Untersuchung zu unterziehen.
»Später werde ich Ihnen etwas mehr sagen können. Sie haben eine Pistole, Kaliber é.35, erwähnt, und das wundert mich eigentlich, denn ich hätte wetten können, dass die Wunde von einer großkalibrigen Waffe herrührt.«
»Und die Entfernung?«
»Auf den ersten Blick habe ich keinen Pulverrand und auch keinen Pulverstaub entdeckt. Der Tod ist sofort oder fast sofort eingetreten, denn die Frau hat sehr wenig Blut verloren. Um wen handelt es sich eigentlich?«
»Um die Ehefrau eines jungen Journalisten …«
Für alle Anwesenden wie auch für Moers und die Spezialisten des Erkennungsdienstes handelte es sich um Routinearbeit, bei der sie sich keiner Gefühlsregung hingaben. Hatte nicht einer der städtischen Angestellten noch eben beim Betreten des Raumes ausgerufen:
»Mensch, das Luder stinkt aber!«
Manche Frauen waren mit einem Säugling im Arm in den Hof gekommen, andere, die alles von ihrer Wohnung aus beobachten konnten, beugten sich hinaus, so dass sich eine Unterhaltung von Fenster zu Fenster entspann.
»Sind Sie sicher, dass es nicht der Dickere ist?«
»Hundertprozentig! Den Dickeren kenne ich nicht …«
Sie sprachen von Lourtie. Doch die beiden Frauen hielten nach Maigret Ausschau.
»Da ist er! … Der mit der Pfeife …«
»Da sind zwei, die Pfeife rauchen …«
»Ich meine natürlich nicht den Jüngeren … Den anderen … Der jetzt gerade zu den Leuten vom Palais de Justice rübergeht.«
Dréville, der stellvertretende Staatsanwalt, fragte den Kommissar:
»Haben Sie schon eine Ahnung, worum es sich handelt?«
»Die Tote ist eine zweiundzwanzigjährige Frau namens Sophie Ricain, geborene Le Gal. Sie stammt aus Concarneau, wo ihr Vater Uhrmacher ist …«
»Hat ihn jemand benachrichtigt?«
»Noch nicht … Ich werde mich gleich darum kümmern …«
»War sie verheiratet?«
»Seit drei Jahren … Mit François Ricain, einem jungen Journalisten, der sich auch in der Filmbranche versucht und Karriere machen will …«
»Wo ist er?«
»In meinem Büro …«
»Scheint er Ihnen verdächtig?«
»Bis jetzt noch nicht. Er ist im Augenblick noch zu sehr mitgenommen, um bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft dabei zu sein, außerdem würde er uns nur im Weg rumstehen.«
»Wo war er zum Zeitpunkt des Verbrechens?«
»Niemand kennt den genauen Zeitpunkt des Verbrechens.«
»Und Sie, Doktor, können Sie ihn nicht annähernd bestimmen?«
»Bis jetzt noch nicht. Vielleicht lässt er sich bei der Obduktion feststellen, wenn ich erfahre, wann das Opfer seine letzte Mahlzeit eingenommen hat und worin sie bestand.«
»Wie steht’s mit den Nachbarn?«
»Einige von ihnen beobachten uns gerade. Ich habe sie noch nicht vernommen, aber ich glaube nicht, dass sie uns wichtige Hinweise geben können. Sie haben sicher gesehen, dass man in die Einzimmerappartements gelangen kann, ohne an der Concierge vorbeizukommen, denn ihre Loge befindet sich neben dem Haupteingang am Boulevard de Grenelle.«
Die lästige Routine. Die übliche Warterei, die üblichen belanglosen Phrasen. Lapointe blieb seinem Chef wortlos auf den Fersen. In seiner Haltung und seinem Blick lag etwas von der Ergebenheit eines treuen Hundes.
Die Leute, die die Desinfektion durchgeführt hatten, verließen das Appartement mit einem dicken, graugestrichenen, weichen Rohr, das sie eine Viertelstunde vorher hineingetragen hatten. Der Mann im weißen Kittel, der die Arbeiten leitete, machte den Wartenden ein Zeichen, dass sie nun eintreten könnten.
»Bleiben Sie nicht zu lange in diesem Raum«, warnte er Maigret, »der Formalingestank hat sich noch nicht verzogen.«
Doktor Delaplanque kniete neben der Leiche nieder, um sie
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