Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
genauer zu untersuchen.
»Von mir aus kann sie jetzt weggebracht werden.«
»Wie ist es mit Ihnen, Kommissar?«
Maigret hatte alles gesehen, was es zu sehen gab, eine zusammengekrümmte Gestalt in einem geblümten seidenen Morgenrock. Ein Fuß steckte noch in einem roten Pantöffelchen. So wie die Frau da im Raum lag, war es unmöglich zu sagen, was sie im Augenblick, als der Schuss abgefeuert wurde, getan, ja nicht einmal, wo sie genau gestanden hatte.
Soweit sich das überhaupt noch beurteilen ließ, hatte sie ein eher hübsches Allerweltsgesicht. Ihre Zehennägel waren rot lackiert, aber nicht sonderlich gepflegt, denn der Lack sprang stellenweise schon ab, und besonders sauber waren die Nägel auch nicht.
Der Gerichtsschreiber saß neben seinem Vorgesetzten und stenographierte mit, desgleichen der Sekretär des Polizeikommissars.
»Rufen Sie die Träger herein …«
Die Männer traten auf tote Fliegen. Sie standen sich gegenseitig im Weg. Einer nach dem anderen holte sein Taschentuch hervor, betupfte sich die Augen wegen des beißenden Formalingeruchs.
Die Leiche wurde hinausgetragen. Im Hof trat einige Augenblicke lang ehrerbietiges Schweigen ein. Die Herren von der Staatsanwaltschaft entfernten sich als Erste, gefolgt von Delaplanque, während Moers und seine Spezialisten darauf warteten, endlich mit der Arbeit beginnen zu können.
»Sollen wir alles durchkämmen, Chef?«
»Das wäre ratsam. Man kann nie wissen.«
Vielleicht würden sie im Dunkeln tappen, vielleicht aber auch sofort ins Schwarze treffen. Das ließ sich zu Beginn einer Ermittlung nie oder fast nie vorhersagen.
Maigret, dem die Augenlider brannten, öffnete eine der Kommodenschubladen, die alles Mögliche enthielt: einen alten Feldstecher, Knöpfe, einen abgebrochenen Kugelschreiber, Bleistifte, Fotos von Dreharbeiten, eine Sonnenbrille, Rechnungen …
Er würde wiederkommen, wenn der Geruch sich verflüchtigt hätte, doch schon jetzt fiel ihm der eigenartige Einrichtungsstil auf: ein mit schwarzer Lackfarbe gestrichener Fußboden, die Zimmerdecke und -wände knallrot, dazu kreideweiße Möbel, so dass das Ganze irgendwie irreal, eher wie eine Bühnenausstattung wirkte. Alles schien eher improvisiert.
»Was hältst du davon, Lapointe? Möchtest du in einem solchen Raum leben?«
»Da hätte ich Alpträume.«
Sie traten ins Freie. Im Hof standen immer noch Schaulustige herum. Die Polizisten hatten sie näher herangelassen.
»Hab ich dir’s nicht gesagt? Der da ist’s! … Ich frage mich nur, ob er noch mal herkommt … Es scheint, dass er alles persönlich in die Hand nimmt, und es könnte gut sein, dass er jedem von uns Fragen stellt.«
Die Frau, die so redete, war eine nichtssagende Blondine mit einem Säugling im Arm. Sie lächelte Maigret zu, als wäre er ein Filmstar.
»Ich muss jetzt gehen, Lapointe. Hier ist der Schlüssel zur Wohnung. Wenn Moers’ Leute fertig sind, schließ die Tür ab und fang schon mal damit an, die Nachbarn zu befragen … Der Mord – wenn es überhaupt einer ist – wurde nicht letzte Nacht verübt, sondern in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag … Versuch herauszufinden, ob die Nachbarn gehört haben, dass Leute ein und aus gingen … Teilt euch die Mieter auf, Lourtie und du … Dann befragt die Geschäftsinhaber … Die Schublade ist vollgestopft mit Rechnungen … So siehst du, bei wem sie eingekauft haben …
Ah, beinahe hätte ich es vergessen. Schau nach, ob das Telefon noch funktioniert. Mir scheint, dass der Hörer mittags nicht richtig aufgelegt war.«
Das Telefon funktionierte.
»Bevor ihr beide zum Quai zurückkehrt, ruft mich kurz an … Macht’s gut, Kinder …«
Maigret entfernte sich in Richtung Boulevard de Grenelle und verschwand dann in der Metro. Eine halbe Stunde später befand er sich wieder im Freien und im Sonnenschein. Kurz darauf trat er in sein Büro, wo François Ricain brav auf seinem Stühlchen saß, während Torrence Zeitung las.
»Haben Sie keinen Durst?«, fragte er Ricain, während er seinen Hut abnahm. Er trat ans Fenster und machte es weiter auf.
»Nichts Neues, Torrence?«
»Eben hat ein Journalist angerufen …«
»Ich habe mich schon gewundert, dass keiner am Tatort war … Es sieht ja schon beinahe so aus, als wäre ihr Nachrichtendienst im fünfzehnten Arrondissement schlecht organisiert … Lapointe wird sich mit ihnen herumschlagen müssen.«
Sein Blick schweifte zu Ricain und blieb an dessen Händen hängen. Er sagte zu Torrence:
»Bring
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