Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
Schlüsselbrett.
»Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt nachschaue … Eine alte Gewohnheit … Um diese Zeit frühstückt sie wohl gerade …«
»Monsieur Carus war diese Woche verreist, stimmt’s?«
»Ja, am Mittwoch und am Donnerstag.«
»Ist er allein verreist?«
»Sein Chauffeur hat ihn gegen fünf Uhr nach Orly gefahren … Ich glaube, er musste nach Frankfurt fliegen.«
»Wann ist er zurückgekommen?«
»Gestern Nachmittag, aus London …«
»Sie sind zwar nachts nicht am Empfang, aber vielleicht können Sie herausfinden, wann Madame Carus am Mittwochabend das Hotel verlassen hat und um wie viel Uhr sie zurückgekommen ist.«
»Das haben wir gleich.«
Er blätterte in einem großen Register mit schwarzem Einband.
»Wenn unsere Gäste abends heimkommen, gehen sie meistens zur Reception, um dem Nachtportier zu sagen, wann sie geweckt werden wollen, und ihr Frühstück zu bestellen.
Madame Carus macht das immer … Die Zeit wird nicht vermerkt, aber aus der Reihenfolge der Namen lässt sich in etwa abschätzen, um wie viel Uhr jemand eingetroffen ist.
Sehen Sie selbst … Am Mittwoch steht ihr Name ungefähr an zehnter Stelle … Miss Trevor … Geht früh schlafen, ein altes Fräulein, das immer vor zehn zurückkommt … Die Maxwells … Über den Daumen gepeilt, würde ich sagen, sie kam zwischen zehn Uhr und Mitternacht zurück, jedenfalls vor Mitternacht … Und auch vor Theaterschluss … Heute Abend werde ich beim Nachtportier nachfragen.«
»Vielen Dank. Können Sie mich bei ihr anmelden?«
»Sie möchten sie sehen? … Kennen Sie sie denn?«
»Gestern habe ich mit ihr und ihrem Mann nach dem Abendessen noch einen Kaffee getrunken. Ich statte ihr also eine Art Höflichkeitsbesuch ab.«
»Geben Sie mir bitte Nummer vierhundertdrei … Hallo? … Madame Carus? … Hier spricht der Portier … Kommissar Maigret möchte wissen, ob Sie ihn empfangen können … Ja … In Ordnung … Ich werde es ausrichten.«
Und zu Maigret:
»Sie bittet Sie, sich zehn Minuten zu gedulden.«
Brauchte sie den Aufschub, um noch letzte Hand an ihr kunstvolles, gespenstisches Make-up zu legen, oder wollte sie vorher in der Rue de Bassano anrufen?
Der Kommissar ging zu Lapointe zurück. Schweigend liefen die beiden die Vitrinen ab, wo Schmuck der führenden Pariser Juweliere oder auch Pelzmäntel und feinste Dessous ausgestellt waren.
»Hast du keinen Durst?«
»Nein, danke …«
Sie hatten das unangenehme Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, und fühlten sich erleichtert, als die zehn Minuten um waren und sie einen der Fahrstühle betraten.
»Vierter Stock.«
Nora, die ihnen sogleich die Tür öffnete, trug einen Morgenrock aus blassgrünem Satin, der genau auf ihre Augenfarbe abgestimmt war. Ihre Haare wirkten noch farbloser als am Vorabend, beinahe weiß.
Im geräumigen Empfangszimmer waren zwei Fenstertüren, von denen die eine auf einen Balkon hinausging.
»Ich war nicht auf Ihren Besuch gefasst und bin eben erst aufgestanden …«
»Ich hoffe, wir haben Sie nicht beim Frühstück gestört.«
Das Tablett befand sich nicht in diesem Raum, sondern vermutlich nebenan.
»Möchten Sie meinen Mann sprechen? … Er ist schon längst in sein Büro gegangen …«
»Nein, ich habe Ihnen ein paar kleine Fragen zu stellen. Natürlich sind Sie nicht verpflichtet, mir zu antworten … Zuerst eine Routinefrage, die ich allen stelle, die Sophie Ricain kannten. Sie richtet sich nicht gegen Ihre Person. Wo waren Sie am Mittwochabend?«
Mit unbewegtem Gesicht setzte sie sich in einen der weißbezogenen Sessel und fragte:
»Um wie viel Uhr?«
»Wo haben Sie zu Abend gegessen?«
»Lassen Sie mich nachdenken … Mittwoch? … Gestern waren Sie mit uns zusammen … Am Donnerstag habe ich allein im ›Fouquet’s‹ zu Abend gegessen, nicht im ersten Stock, das tue ich nur, wenn ich mit Carus ausgehe, sondern an einem Einzeltisch im Parterre … Mittwoch … Am Mittwochabend habe ich überhaupt nicht gegessen, so einfach ist das.
Außer dem Frühstück nehme ich meistens nur noch eine Mahlzeit zu mir … Wenn ich zu Mittag esse, lasse ich das Abendessen ausfallen … Und wenn ich zu Abend esse, habe ich mittags nichts zu mir genommen … Am Mittwoch haben wir mit Freunden im ›Berkeley‹ gegessen.
Am Nachmittag war ich zur Anprobe, ganz in der Nähe … Dann habe ich im Café ›Chez Jean‹ in der Rue Marbeuf einen Aperitif getrunken … Gegen neun Uhr war ich wieder im Hotel …«
»Sind Sie sofort in
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