Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
dass er nicht bei mir war … Sagen Sie mal, hat er denn überhaupt Geld?«
»Ich habe ihm zwanzig Franc gegeben, damit er etwas essen und mit dem Bus fahren kann …«
»Na, dann wird er wohl bald hier aufkreuzen … Es sei denn, er hat bei seiner Zeitung vorbeigeschaut, und die Kasse war ausnahmsweise mal nicht leer … Manchmal geschehen ja Wunder …«
»Haben Sie Nora am Mittwochabend gesehen?«
»Nein, hier ist sie nicht gewesen … Übrigens erinnere ich mich nicht, sie jemals ohne Carus gesehen zu haben, und Carus war auf Dienstreise.«
»Ja, in Deutschland. Sie ist allein ausgegangen. Ich frage mich nur, wo sie gewesen ist.«
»Hat sie es Ihnen nicht gesagt?«
»Sie behauptet, gegen neun Uhr ins ›Hôtel Raphaël‹ zurückgekommen zu sein.«
»Und das stimmt nicht?«
»Laut Hotelunterlagen war es nach elf.«
»Komisch …«
Bobs ironisches Lächeln war wie ein feiner Riss in seinem starren Gesicht.
»Finden Sie das lustig?«
»Sie müssen schon zugeben, dass es Carus ganz recht geschehen würde! … Er nützt ja auch schamlos jede Gelegenheit aus. Wäre doch lustig, wenn auch Nora umgekehrt … Und trotzdem kann ich mir das bei ihr nicht vorstellen.«
»Weil sie ihn liebt?«
»Nein, weil sie zu intelligent und zu berechnend ist. Sie würde doch nicht alles aufs Spiel setzen, jetzt, wo sie ihr Ziel schon fast erreicht hat, und das nur wegen eines Abenteuers – da mag der Mann noch so verführerisch sein.«
»Vielleicht war sie ihrem Ziel nicht so nahe, wie Sie meinen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Carus hat sich regelmäßig mit Sophie in einer kleinen Wohnung in der Rue François-1 er getroffen, die er einzig zu diesem Zweck gemietet hatte.«
»Also doch ein richtiges Verhältnis?«
»Er behauptet es jedenfalls. Er behauptet sogar, dass in ihr das Zeug zu einem Filmstar steckte und dass sie es innerhalb kürzester Zeit geschafft hätte.«
»Meinen Sie das jetzt im Ernst? Carus, der immer so … aber sie war doch bloß eins von diesen jungen Dingern, wie man sie dutzendweise antrifft … Schon allein auf den Champs-Élysées könnte man genug hübsche Mädchen auflesen, um alle Kinoleinwände der Welt zu bevölkern.«
»Nora wusste von ihrem Verhältnis.«
»Also jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr … Allerdings, wenn ich mich in all den Liebesgeschichten meiner Gäste zurechtfinden müsste, hätte ich längst Magengeschwüre … Erzählen Sie das mal meiner Frau! Sie wäre sehr gekränkt, wenn Sie nicht wenigstens kurz bei ihr in der Küche vorbeischauen würden. Sie ist ja ganz verknallt in Sie … Wie wär’s mit einem Gläschen?«
»Gern, aber lieber später …«
Die Küche war geräumiger und moderner, als er sie sich vorgestellt hatte. Wie erwartet, wischte sich Rose die Hand an der Schürze ab, bevor sie sie ihm entgegenstreckte.
»Sie haben ihn also doch freigelassen!«
»Wundert Sie das?«
»Ich weiß auch nicht mehr … Jeder, der hierherkommt, hat sich eine andere Geschichte zurechtgelegt … Die einen sind davon überzeugt, dass Francis sie aus Eifersucht umgebracht hat … Andere halten einen Liebhaber, dem sie den Laufpass geben wollte, für den Mörder … Und wieder andere sagen, dass sich eine Frau an ihr gerächt hat …«
»Nora?«
»Wer sagt denn so was?«
»Carus hatte mit Sophie ein Verhältnis, und Nora wusste davon … Er hatte die Absicht, Sophie zu lancieren.«
»Stimmt das, oder haben Sie sich das jetzt nur ausgedacht, um mich zum Reden zu bringen?«
»Nein, ich sage die Wahrheit. Überrascht Sie das?«
»Mich? … Ich wundere mich schon seit längerem über gar nichts mehr … Wenn Sie wie ich im Gastgewerbe tätig wären …«
Sie schien ganz zu vergessen, dass die Leute von der Kriminalpolizei auch einige Erfahrung im Umgang mit Menschen hatten.
»Aber eins will ich Ihnen sagen, mein lieber Kommissar: Wenn Nora sie umgebracht hat, dann werden Sie sich sehr schwertun, es zu beweisen, denn sie ist gerissen genug, um Sie alle hinters Licht zu führen … Essen Sie hier? Es gibt Ente in Orangensauce. Als Vorspeise kann ich Ihnen ein paar Dutzend Kammmuscheln empfehlen, die eben frisch aus La Rochelle eingetroffen sind … Meine Mutter hat sie mir geschickt … Ja, ja … Sie ist über fünfundsiebzig und geht jeden Morgen in die Markthallen.«
Huguet, der Fotograf, betrat mit seiner Freundin das Restaurant. Man sah es diesem strahlenden jungen Mann mit dem rosigen Gesicht an, dass er stolz darauf war, mit einer Frau auszugehen,
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