Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
die Hoffnung nie aufgeben.«
Als er wieder allein war, überlegte er, ob er nicht Doktor Pardon anrufen sollte. Er hätte sich jetzt gern mit ihm unterhalten, ihm eine Menge Fragen gestellt, obwohl sein Freund weder Psychiater noch Psychologe war.
Doch als praktischer Arzt in einem dichtbevölkerten Stadtviertel hatte er schon alles Mögliche erlebt, und oft hatten Maigret die klugen Bemerkungen Doktor Pardons wertvolle Hinweise gegeben.
Doch um diese Zeit befand er sich in seiner Praxis, wo an die zwanzig Patienten im Wartezimmer saßen. Ihr allmonatliches Abendessen aber fand erst in der folgenden Woche statt.
Wie sonderbar: Ganz plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Verlassenheit, ohne dass er einen wirklichen Grund dafür hätte angeben können.
Er war nur ein Rädchen in der komplizierten Maschinerie der Justiz, er verfügte über Spezialisten, Inspektoren, Telefon, Telegraph und auch sonst jedmögliche Unterstützung. Er wiederum unterstand der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter. Die höchste und letzte Instanz aber waren die Richter und die Geschworenen.
Warum fühlte er sich nichtsdestotrotz allein verantwortlich? Ihm war, als hinge das Schicksal eines Menschen einzig von ihm ab – obwohl er noch nicht einmal wusste, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte –, eines Menschen jedenfalls, der die Pistole aus der Schublade der weißgestrichenen Kommode herausgenommen und damit auf Sophie geschossen hatte.
Ein Detail hatte ihm von Anfang an zu schaffen gemacht, für das er auch jetzt keine ausreichende Erklärung fand. Dass jemand im Streit oder im Augenblick starker Erregung auf den Kopf des Gegners zielt, ist sehr ungewöhnlich.
Selbst wenn man sich verteidigt, zielt man unwillkürlich auf die Brust, und nur Berufskiller schießen in den Bauch, da sie wissen, dass man solche Schüsse selten überlebt.
Der Mörder war von seinem Opfer nur etwa einen Meter entfernt gewesen und hatte auf den Kopf gezielt … Wollte er einen Selbstmord vortäuschen?
Nein, denn er hatte ja die Waffe in der Wohnung zurückgelassen, wenn man Ricain Glauben schenken durfte.
Das Ehepaar kehrte gegen zehn Uhr nach Hause zurück. Die beiden waren in Geldnot … Entgegen seiner Gewohnheit ließ Francis seine Frau in der Rue Saint-Charles zurück und machte sich auf die Suche nach Carus oder einem anderen Bekannten, der ihm mit zweitausend Franc aus der Klemme helfen konnte.
Warum hatte er so lange gewartet? Er wusste doch, dass er die Summe schon am nächsten Morgen bezahlen musste!
Er ging noch einmal zum ›Vieux-Pressoir‹, öffnete die Tür einen Spaltbreit, nur um zu sehen, ob der Produzent eingetroffen war.
Zu dieser Zeit befand sich Carus bereits in Frankfurt, das wurde eben in Orly nachgeprüft. Weder Bob noch sonst jemand aus der Clique wusste darüber Bescheid …
Nora dagegen war in Paris … Und zwar nicht in ihrer Hotelsuite, wie sie heute Morgen behauptet hatte, denn das Register am Empfang widerlegte diese Aussage …
Warum aber hatte sie die Unwahrheit gesagt? Wusste Carus, dass sie ausgegangen war? Hatte er sie bei seiner Ankunft in Frankfurt denn nicht angerufen? …
Das Telefon klingelte.
»Hallo … Doktor Delaplanque möchte Sie sprechen … Soll ich durchstellen?«
»Ja, bitte … Hallo? …«
»Maigret? Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber da ist etwas, das mir seit heute Morgen keine Ruhe lässt. Ich habe es in meinem Bericht nicht erwähnt, da die Sache nicht ganz eindeutig ist … Während der Obduktion habe ich an den Handgelenken der Leiche Spuren festgestellt, die darauf hindeuten, dass jemand sie sehr hart angefasst hat … Es sind keine richtigen Blutergüsse …«
»Und was noch? …«
»Das ist alles … Ich will zwar nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass dem Mord eine handgreifliche Auseinandersetzung vorausging, aber wundern würde es mich nicht … Ich könnte mir vorstellen, dass der Angreifer sie an den Handgelenken gepackt und sie weggestoßen hat … Gut möglich, dass sie aufs Sofa gefallen ist, sich wieder aufgerichtet hat und dass jemand genau in diesem Moment auf sie geschossen hat … So ließe sich auch erklären, dass die Kugel in einer Höhe von etwa einem Meter zwanzig in der Wand gefunden wurde, denn wenn die junge Frau aufrecht gestanden hätte …«
»Ich verstehe. Sind die Striemen mit bloßem Auge erkennbar?«
»Nur eine Druckstelle ist ein bisschen deutlicher zu sehen. Sie könnte von einem Daumen stammen, aber ganz
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