Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
Maigret, plötzlich hellwach.
»Lassen Sie mich nachdenken … Heute haben wir Samstag … Freitag … Donnerstag … Nein, am Donnerstag war ich in der Premiere der Ballettaufführung … Also am Mittwoch … Ich war auf der Suche nach Motiven für einen Artikel über Teenager … Man hatte mir von diesem Lokal erzählt …«
»Können Sie sich an die Uhrzeit erinnern?«
»Es war so gegen zehn … Ja, ich bin wohl gegen zehn Uhr dort eingetroffen … Jocelyne war bei mir … Was möchtest du, Schatz … Zehn Uhr, das stimmt doch? … Ein etwas heruntergekommenes, aber sehr originelles Lokal, in dem junge Männer verkehren, die sich das Haar bis in den Nacken wachsen lassen.«
»Hat Nora Sie gesehen?«
»Das glaube ich nicht … Sie saß in einer Ecke und hat sich mit einem Muskelprotz unterhalten, der jedenfalls kein Teenager mehr war … Ich vermute, er war der Besitzer. Die beiden schienen ernsthaft zu diskutieren …«
»War sie lange dort?«
»Ich habe mir meinen Weg durch die zwei oder drei Räume gebahnt, wo fast alle getanzt haben … Wenn man das überhaupt noch Tanzen nennen kann … Sie klebten alle eng aneinander und versuchten eben, sich so gut es ging zu bewegen …
Zwischen den vielen Gesichtern und Schultern der jungen Leute habe ich sie immer mal wieder kurz auftauchen sehen … Sie war immer noch am Diskutieren … Der Typ hatte einen Bleistift hervorgeholt und schrieb Zahlen auf einen Zettel.
Eigentlich komisch, das Ganze … Schon im normalen Leben kommt sie einem ziemlich unwirklich vor … Aber in diesem bizarren Lokal … Das hätte ein gutes Foto abgegeben!«
»Hast du denn keins gemacht?«
»Ich bin doch nicht blöd … Da hätte ich Ärger mit Papa Carus bekommen … Immerhin bezahle ich meine Brötchen zur Hälfte mit seinem Geld …«
Maigret sagte laut:
»Noch ein Bier, Bob …«
Irgendwie hatte sich seine Stimme verändert, auch seine Körperhaltung war straffer geworden.
»Können Sie mir wieder den Tisch in der Ecke reservieren, wo ich gestern saß?«
»Essen Sie denn nicht mit uns?«, fragte der Fotograf verwundert.
»Ein andermal.«
Er musste jetzt allein sein, in Ruhe nachdenken können. Ein Zufall hatte ihm seine säuberlich aneinandergereihten Gedankengänge durcheinandergebracht. Das ganze Gebäude war zusammengebrochen.
Francis war beunruhigt und ließ ihn nicht aus den Augen. Auch Bob hatte die Veränderung bemerkt, die mit dem Kommissar vorgegangen war.
»Dass sich Nora in ein solches Lokal wagt, scheint Sie wohl zu überraschen? …«
Doch der Kommissar wandte sich an Huguet:
»Wie heißt denn dieses Lokal?«
»Wollen Sie denn auch eine Studie über die Beatniks machen? … Lassen Sie mich nachdenken … Das Schild ist nicht besonders originell … Es stammt sicher noch aus der Zeit, als es noch ein Bistro für Clochards war … ›As de Pique‹, ja, so heißt es … Wenn Sie hochkommen, links …«
Maigret trank sein Glas aus.
»Also, Sie halten mir den Tisch in der Nische frei«, sagte er zum zweiten Mal.
Wenige Augenblicke später saß er in einem Taxi. Er ließ sich bis zur Place de la Contrescarpe fahren.
Bei Tageslicht sah das Lokal unansehnlich und verblichen aus. Es war leer, bis auf drei langhaarige junge Männer und ein Mädchen in einem Männeranzug, das ein Zigarillo rauchte. Ein Mann in einem schmuddeligen Pullover kam aus dem Nebenraum getrottet, trat hinter die Theke und musterte Maigret argwöhnisch.
»Was soll’s denn sein?«
»Ein Bier«, sagte Maigret, ohne nachzudenken.
»Und sonst?«
»Nichts.«
»Keine Fragen?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich bin nicht von gestern, und ein Kommissar Maigret kommt nicht hierher, weil er Durst hat. Also, Sie müssen schon Farbe bekennen.«
Grinsend schenkte sich der Mann ein Gläschen Schnaps ein.
»Jemand ist am Mittwochabend hierhergekommen …«
»Ein paar Hundert Jemands, wenn ich Sie korrigieren darf.«
»Ich meine eine Frau, mit der Sie ein langes Gespräch geführt haben.«
»Die Hälfte der Leute waren Frauen, und ich habe mit einer ganzen Reihe von ihnen Gespräche geführt, wie Sie es nennen.«
»Nora.«
»Ach, die meinen Sie. Na und?«
»Warum ist sie hergekommen?«
»Aus dem Grund, der sie durchschnittlich einmal im Monat hierherführt.«
»Nämlich?«
»Um die Abrechnung zu verlangen.«
»Wie denn das?«
Doch die verblüffende Wahrheit dämmerte ihm bereits, bevor der Mann zur Antwort ansetzte:
»Weil sie hier die Chefin ist, ja, ja, Monsieur Maigret! … Sie
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