Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
Gäste, die jetzt einer nach dem andern aufbrachen … Fetzen von Abschiedsworten …
»Heute abend – hier?«
»Bring wenn möglich Lea mit!«
Allmählich leerte sich die Bar. Es war halb zwei. Nebenan im Speisesaal ertönte das Klirren von Besteck.
Crosby legte einen Hundert-Franc-Schein auf die Theke.
»Sie bleiben noch?« fragte er den Kommissar.
Er hatte den Mann nicht bemerkt. Aber er würde ihm beim Hinausgehen Auge in Auge gegenüberstehen.
Auf diesen Moment wartete Maigret mit einer fast schmerzhaften Ungeduld. Madame Crosby und Edna lächelten ihm zum Abschied zu.
Joseph Heurtin stand keine zwei Meter von der Tür entfernt. An einem seiner Schuhe fehlte der Schnürsenkel. Jeden Augenblick konnte ein Schutzmann auftauchen, seinen Ausweis verlangen oder ihn zum Weitergehen auffordern.
Die Tür drehte sich in den Angeln. Crosby schritt barhäuptig zu seinem Wagen. Die beiden Frauen folgten. Eine machte eine scherzhafte Bemerkung, und sie lachten.
Es geschah rein gar nichts! Heurtin beachtete die Amerikaner so wenig wie die übrigen Passanten. Weder William noch seine Frau nahmen von ihm Notiz.
Die drei Ausländer stiegen in den Wagen. Die Türen schlugen zu.
Andere Gäste traten ins Freie, drängten den Exgefangenen von der Tür weg, der sich ihr von neuem genähert hatte.
In diesem Augenblick erblickte Maigret im Spiegel ein Gesicht, zwei blitzende Augen unter dichten Brauen, ein kaum merkliches, aber unleugbar spöttisches Lächeln.
Die Lider senkten sich sogleich wieder über die verräterischen Pupillen, doch eine Sekunde hatte genügt, Maigret hatte den bestimmten Eindruck, daß dieser Spott ihm galt.
Der Mann, der ihn angeblickt hatte und der jetzt nichts und niemanden mehr anblickte, war der rothaarige Joghurtesser.
Nachdem der letzte Gast an der Bar, ein Engländer, seine Times zu Ende gelesen und das Lokal verlassen hatte, standen die Barhocker leer, und Bob verkündete:
»Ich geh essen …«
Seine beiden Gehilfen säuberten die Mahagonitheke, räumten die Gläser, die Oliven- und Chipsschalen weg.
Zwei Gäste waren an ihren Tischen sitzen geblieben: der Rothaarige und die Russin in Schwarz. Sie schienen nicht zu bemerken, daß sie allein waren.
Joseph Heurtin geisterte immer noch draußen herum, und seine Augen waren so leer, sein Gesicht so bleich, daß einer der Barkellner, der ihn durch das Fenster beobachtete, zu Maigret sagte:
»Noch einer, der demnächst einen epileptischen Anfall bekommt … Warum die sich immer ausgerechnet Caféterrassen aussuchen müssen … Ich hol einen Boy.«
»Nein …«
Der Joghurt-Mensch konnte alles hören. Dennoch fuhr Maigret mit kaum gedämpfter Stimme fort:
»Rufen Sie für mich die Kriminalpolizei an … Sie sollen zwei Leute schicken … Am besten Lucas und Janvier … Können Sie sich das merken?«
»Geht’s um den Landstreicher?«
»Egal …«
Nach dem Aperitif-Rummel war es in der Bar still geworden. Der Rothaarige hatte sich nicht gerührt, hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Die Frau in Schwarz blätterte gleichmütig eine Seite ihrer Zeitung um.
Der zweite Kellner beobachtete Maigret jetzt neugierig. Minuten verstrichen, tröpfelten gewissermaßen Sekunde für Sekunde dahin.
Der Kellner zählte seine Einnahmen, raschelte mit Banknoten und klimperte mit Münzen.
Der andere kehrte vom Telefon zurück.
»Man sagte mir, Ihr Auftrag werde erledigt …«
»Danke.«
Der zerbrechliche Schemel ächzte unter dem Gewicht des Kommissars. Maigret rauchte eine Pfeife nach der anderen, während er mechanisch sein Whiskyglas leerte. Er vergaß, daß er noch nicht zu Mittag gegessen hatte.
»Einen Café crème …«
Die Stimme kam aus der Ecke, wo der Joghurt-Mann saß. Der Kellner warf Maigret einen Blick zu, zuckte die Achseln, rief nach hinten in Richtung Durchreiche:
»Einen Crème! … Einen!«
Und zum Kommissar, mit leiser Stimme:
»Davon lebt er jetzt bis sieben Uhr abends … Es ist wie mit der anderen da drüben …«
Sein Kinn deutete auf die Russin.
Zwanzig Minuten verstrichen. Heurtin, müde vom Umhergehen, stand steif am Straßenrand, und ein Mann, der eben in seinen Wagen stieg, hielt ihn für einen Bettler, reichte ihm ein Geldstück, das er nicht zurückzuweisen wagte.
Ob ihm von seinen zwanzig Franc noch etwas übrig geblieben war? Hatte er seit dem Vortag überhaupt gegessen? Hatte er geschlafen?
Die Bar zog ihn unwiderstehlich an. Wieder kam er näher, furchtsam nach den Kellnern und Boys Ausschau haltend, die
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