Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
Maigret wirklich dachte, wurde ihm selbst erst klar, als er sich mit der Wohnung Inspektor Dufours verbinden ließ. Dufour antwortete selbst.
»Geht’s dir besser?«
»Ich spaziere bereits in der Wohnung herum. Morgen kann ich hoffentlich auf einen Sprung ins Büro kommen … Aber die Narbe ist ein Anblick, sag ich Ihnen! Der Arzt hat gestern abend den Verband entfernt, und ich hab mir die Pracht angesehen … Ein wahres Wunder, daß der Schädel nicht zersplittert ist … Haben Sie den Burschen wenigstens wieder gefaßt?«
»Mach dir keine Sorgen … Hallo! … Ich leg auf, weil ich den andern Apparat läuten höre und auf einen Anruf warte …«
Der weißglühende Ofen verbreitete eine stickige Hitze im Zimmer. Maigret hatte sich nicht getäuscht. Sowie er den Hörer auflegte, klingelte es wieder.
Es war Lucas.
»Hallo! Chef? … Unterbrechen Sie nicht, Mademoiselle! Polizei! Hallo! Hallo! …«
»Ja, ich höre dich … Wo steckst du?«
»In Morsang …«
»Wie?«
»Einem kleinen Dorf an der Seine, rund fünfunddreißig Kilometer von Paris entfernt …«
»Und … der andere ?«
»In Sicherheit! Zu Hause!«
»Liegt Morsang in der Nähe von Nandy?«
»Es sind etwa vier Kilometer. Ich telefoniere von hier aus, um keinen Verdacht zu erregen … War das eine Nacht, Chef!«
»Erzähl!«
»Ich dachte, wir würden bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in Paris herumlungern … Anscheinend wußte er nicht, wohin er gehen sollte … Um acht Uhr abends machten wir vor der Volksküche in der Rue de Réaumur halt. Er hat dort fast zwei Stunden auf seine Suppe gewartet …«
»Also hat er kein Geld mehr …«
»Dann ging’s wieder los … Was er bloß mit der Seine hat? Einfach unglaublich! Einmal folgte er ihr auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite … Hallo! Nicht unterbrechen! … Sind Sie noch da? …«
»Sprich weiter.«
»Dann hat er endlich Kurs auf Charenton genommen, immer dem Ufer entlang … Ich dachte, er würde sich unter einer Brücke schlafen legen … Ehrlich! Er hielt sich kaum mehr auf den Füßen … Aber nein! Hinter Charenton ging’s weiter nach Alfortville, wo er schlicht und einfach die Straße nach Villeneuve-Saint-Georges unter die Füße nahm … Es war stockdunkel … Die Straße war aufgeweicht … Alle dreißig Sekunden fuhr ein Wagen vorbei … Wenn ich das vorher gewußt hätte …«
»Du würdest es wieder tun! Weiter!«
»Das ist alles … Fünfunddreißig Kilometer in diesem Stil! Können Sie sich das vorstellen? … Außerdem begann es zu regnen, und zwar je länger, je schlimmer. Er merkte es nicht einmal. In Corbeil hätte ich um ein Haar ein Taxi angehalten, um leichter voranzukommen … Um sechs Uhr morgens sind wir beide immer schön hintereinander durch die Wälder zwischen Morsang und Nandy marschiert …«
»Hat er das Haus durch den Vordereingang betreten?«
»Kennen Sie diese Herberge? … Als luxuriös kann man sie nicht bezeichnen. Eine Fuhrmannskneipe … Gasthof, Zeitungskiosk, Café, Tabakladen, alles in einem. Ich glaube, sie verkaufen sogar Kurzwaren … Aber er ist ums Haus geschlichen, durch ein kaum meterbreites Gäßchen, und dann über eine Mauer geklettert. Ich sah ihn eben noch in einem Schuppen verschwinden, es könnte auch ein Stall sein …«
»Und das ist alles?«
»So ungefähr, ja. Nach einer halben Stunde kam Vater Heurtin herunter, öffnete die Läden, schob die Riegel von seiner Bude zurück … Er sah ganz normal aus. Ich ging hinein, bestellte ein Glas Wein, und er wirkte keineswegs nervös … Ich hatte Glück, denn unterwegs nach Morsang begegnete mir ein Schutzmann auf seinem Fahrrad. Ich sagte ihm, er solle eine Panne vortäuschen, einen geplatzten Reifen oder so, und sich unter diesem Vorwand im Bistro niederlassen, bis ich zurückkäme …«
»Das ist ja ausgezeichnet!«
»Finden Sie? … Man sieht, daß Sie nicht bis zum Hals im Dreck stecken … Meine Socken fühlen sich wie nasse Kompressen an, und das Hemd könnte man auswringen … Was mach ich jetzt?«
»Du hast ja wohl keinen Koffer dabei?«
»Ein Koffer hätte mir gerade noch gefehlt!«
»Geh zurück in die Herberge … Erzähl irgendwas … Daß du auf einen Freund wartest, mit dem du dort verabredet bist …«
»Werden Sie kommen?«
»Keine Ahnung … Aber eines kann ich dir sagen: Wenn uns Heurtin noch einmal entwischt, dann platze ich!«
Maigret hängte ein, schaute sich müßig im Zimmer um. Dann rief er durch die angelehnte Tür nach dem
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