Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
erblickte.
»Eigentlich nicht … Es sei denn, Sie kennen einen gewissen Radek …«
In der Louis-seize-Halle herrschte ein emsiges Kommen und Gehen. Der Angestellte zählte Bündel von je zehn zusammengehefteten Hundert-Franc-Scheinen ab.
»Radek?«
Maigrets Blick bohrte sich in die Augen des Amerikaners. Crosbys Miene veränderte sich nicht.
»Nein … Aber Sie können meine Frau fragen, wenn Sie wollen. Sie wird gleich herunterkommen … Wir dinieren mit Freunden in der Stadt. Ein Galaabend für wohltätige Zwecke im ›Ritz‹ …«
Tatsächlich trat Madame Crosby gleich darauf aus dem Fahrstuhl, ein Hermelincape über den fröstelnden Schultern. Mit hochgezogenen Brauen betrachtete sie den Kriminalbeamten.
»Ist etwas passiert?«
»Nichts Besonderes. Ich suche einen gewissen Radek.«
»Radek … Jemand, der hier wohnt?«
Crosby stopfte die Geldscheine in die Tasche, reichte Maigret die Hand.
»Sie entschuldigen? … Wir sind schon zu spät …«
Der Wagen, der draußen gewartet hatte, glitt über den Asphalt davon.
Das Telefon klingelte.
»Hallo! Richter Coméliau wünscht Kommissar Maigret zu sprechen …«
»Sagen Sie, ich sei nicht da. Verstanden?«
Zu dieser frühen Stunde rief der Richter bestimmt von zu Hause aus an. Wahrscheinlich saß er, noch im Schlafrock, gerade beim Frühstück und blätterte fieberhaft die Zeitungen durch, wobei ihm sein typisches Zucken um die Lippen spielte.
»Hallo, Jean! Hat niemand sonst nach mir gefragt? … Was sagte der Richter?«
»Sie sollen ihn anrufen, sobald Sie da sind. Bis neun zu Hause, danach im Gericht … Hallo! … Warten Sie! Da klingelt es gerade … Hallo! Hallo! … Kommissar Maigret? … Einen Augenblick, Monsieur Janvier …«
Die Verbindung klappte.
»Kommissar?«
»Verschwunden, wie?«
»Verschwunden, jawohl. Ich kann es mir nicht erklären! Ich war keine zwanzig Meter hinter ihm …«
»Und …? Schnell!«
»Ich frag mich, wie es passieren konnte … Vor allem weil ich sicher bin, daß er mich nicht gesehen hat …«
»Weiter.«
»Erst ist er kreuz und quer durch die Straßen im Viertel geirrt … Dann hat er sich zum Bahnhof Montparnasse begeben … Da um diese Zeit gerade die Vorstadtzüge ankommen, bin ich ihm so dicht wie möglich auf den Fersen geblieben, um ihn im Gewühl nicht zu verlieren …«
»Und trotzdem ist er verschwunden?«
»Ja, aber nicht in der Menge … Er sprang auf einen der einfahrenden Züge, hatte aber keine Fahrkarte gelöst … Ich hatte eben noch Zeit, einen Angestellten zu fragen, wohin der Zug fahren würde, und hab dabei den Wagen keine Sekunde aus den Augen gelassen, aber da war er schon weg … Er muß auf der anderen Seite abgesprungen sein …«
»Verdammt!«
»Was soll ich jetzt machen?«
»Geh in die Bar vom ›Coupole‹ und wart dort auf mich … Und wundere dich über nichts … Vor allem aber reg dich nicht auf!«
»Ich schwör Ihnen, Kommissar …«
Die Stimme am anderen Ende klang wie die eines kleinen Jungen, der den Tränen nahe ist. Inspektor Janvier war erst fünfundzwanzig.
»Also dann! Bis gleich.«
Maigret drückte die Gabel nieder, hielt den Hörer wieder ans Ohr.
»Hôtel George-V … Hallo, ja! … Ist Monsieur William Crosby zurück? … Nein, stören Sie ihn nicht … Wann bitte? Um drei? … Mit Mrs. Crosby? … Ich danke Ihnen … Hallo! … Wie? … Er will nicht vor elf Uhr geweckt werden? … Danke … Nein, Sie brauchen ihm nichts zu bestellen … Ich sehe ihn später …«
Der Kommissar begann in aller Ruhe seine Pfeife zu stopfen und nahm sich sogar Zeit nachzusehen, ob noch genügend Kohle in seinem Ofen glühte.
Jemand, der ihn nicht sehr gut kannte, hätte ihn in diesem Augenblick für einen ausgesprochen selbstsicheren Mann gehalten, der geradewegs auf ein klares Ziel zusteuerte.
Mit geschwellter Brust lehnte er sich im Sessel zurück, blies den Rauch aus seiner Pfeife zur Decke. Als der Bürodiener ihm die Zeitungen brachte, scherzte er fröhlich mit ihm.
Doch kaum war er allein, nahm er den Hörer wieder auf.
»Hallo! Hat Lucas nicht nach mir gefragt?«
»Noch nicht, Kommissar …«
Und Maigrets Zähne gruben sich in den Pfeifenstiel. Es war neun Uhr morgens. Seit gestern nachmittag um fünf war Joseph Heurtin aus der Umgebung des Boulevard Raspail verschwunden, und mit ihm Wachtmeister Lucas.
War es denkbar, daß Lucas keine Möglichkeit gefunden hatte, irgendeinem Schutzmann eine Nachricht zuzustecken oder selbst zu telefonieren?
Was
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