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Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Titel: Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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waren lang, auffallend weiß und mit Sommersprossen übersät. Sie schienen ein Eigenleben zu führen, sich an dem Gespräch auf ihre Weise zu beteiligen.
    »Das soll nicht heißen, daß ich an Ihren beruflichen Qualitäten zweifle. Wenn ich behaupte, Sie hätten nichts, aber auch nicht das geringste begriffen, so will ich damit nur sagen, daß Sie von Anfang an von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind. Und deshalb ist auch alles andere falsch, nicht wahr? … Deshalb wird alles, was Sie herausfinden, von A bis Z falsch sein …
    Umgekehrt sind Ihnen ein paar Punkte, die Ihnen als Ausgangsbasis hätten dienen können, schlichtweg entgangen …
    Zum Beispiel müssen Sie zugeben, daß Sie nicht gemerkt haben, welche Rolle die Seine in dieser Geschichte spielt. Die Villa in Saint-Cloud liegt an der Seine! Die Rue Monsieur-le-Prince liegt nur fünfhundert Meter von der Seine entfernt. Das Citanguette, wohin sich der ausgebrochene Sträfling laut Zeitungsberichten geflüchtet hat, liegt an der Seine. Melun, Heurtins Geburtsort, liegt an der Seine. Seine Eltern wohnen in Nandy an der Seine …«
    Ein übermütiger Funke tanzte in den Augen des Tschechen, während er mit ansonsten ernster Miene fortfuhr:
    »Jetzt sitzen Sie aber schön in der Klemme, was? Mit meinem Gerede scheine ich Ihnen direkt in die Falle zu gehen. Ich komme unaufgefordert auf einen Fall zu sprechen, in den Sie mich nur zu gern verwickelt sehen möchten … Aber inwiefern und warum sollte ich es sein? … Mit Heurtin habe ich nichts zu tun … Mit Crosby habe ich nichts zu tun … Mit Madame Henderson oder ihrer Zofe nicht … Das einzige, was gegen mich spricht, ist die Tatsache, daß sich dieser Joseph Heurtin gestern vor dem ›Coupole‹ herumgetrieben hat und mir aufzulauern schien …
    Vielleicht tat er das, vielleicht auch nicht … Auf jeden Fall habe ich das Lokal unter Polizeischutz verlassen …
    Aber was beweist das schon?
    Ich wiederhole, Sie begreifen nicht und werden auch nie begreifen.
    Meine Rolle in dieser ganzen Geschichte? Ich habe überhaupt nichts damit zu tun. Oder vielleicht alles!
    Versetzen Sie sich an die Stelle eines intelligenten, eines mehr als intelligenten Menschen, der nichts zu tun hat, als den ganzen Tag über nachzudenken, und dem sich unversehens die Gelegenheit bietet, sich mit einem Problem zu befassen, das an sein Fachgebiet grenzt. Denn Kriminologie und Medizin grenzen aneinander …«
    Die steinerne Ruhe des Kommissars, der nicht einmal zuzuhören schien, machte den Tschechen nervös. Seine Stimme wurde lauter.
    »Nun, was sagen Sie dazu, Kommissar? Sehen Sie endlich ein, daß Sie auf dem Holzweg sind? Nein? Noch nicht? Darf ich noch bemerken, daß es ein Fehler war, einen Schuldigen, den Sie schon in der Hand hatten, wieder laufenzulassen? … Denn erstens dürfte es Ihnen schwerfallen, einen Ersatz zu finden, und zweitens müssen Sie damit rechnen, daß Ihnen dieser andere entschlüpft …
    Ich habe eben gesagt, Sie seien von falschen Voraussetzungen ausgegangen … Brauchen Sie noch einen Beweis? Und soll ich Ihnen gleichzeitig einen stichhaltigen Grund liefern, mich zu verhaften?«
    Er trank sein Wodkaglas in einem Zug leer, lehnte sich auf der Bank zurück und griff in eine Außentasche seines Jacketts.
    Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, war sie voll von Hundert-Franc-Scheinen, die in Zehnerbündel zusammengeheftet waren. Es waren insgesamt zehn Bündel.
    »Lauter neue Scheine, wie Sie sehen! Ihre Herkunft läßt sich also leicht feststellen. Tun Sie das! Und viel Vergnügen!
    … Aber vielleicht möchten Sie jetzt lieber schlafen gehen, das würde ich Ihnen jedenfalls sehr empfehlen.«
    Er stand auf. Maigret blieb sitzen, musterte Radek von Kopf bis Fuß und zog lange an seiner Pfeife.
    Die ersten Gäste trafen ein.
    »Bin ich verhaftet?«
    Der Kommissar schien es nicht eilig zu haben. Er griff nach den gebündelten Geldscheinen, betrachtete sie, ließ sie in die Tasche gleiten.
    Dann erst erhob er sich, so bedächtig, daß die Züge des Tschechen sich verzerrten. Er streckte die Hand aus, berührte Radeks Schulter mit zwei Fingern.
    Es war der Maigret der großen Tage, stark, sicher, unwahrscheinlich ruhig.
    »Hör zu, du Gartenzwerg …«
    Einen erfrischenderen Gegensatz zu Radeks Tonfall, seiner gespannten Haltung, seinem scharfen Blick, der eine ganz anders geartete Intelligenz verriet, hätte man sich kaum denken können. Maigret hatte dem Tschechen zwanzig Jahre voraus, und das ließ er

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