Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
weiter:
›Wenn du den Mund hältst, werde ich, Radek, dich retten, verstehst du? Ich hol dich aus dem Gefängnis, vielleicht in einem Monat, vielleicht auch erst in drei. Aber herauskommen wirst du! ‹
Nach seiner Verhaftung beteuert Heurtin immer wieder, er sei kein Mörder. Er ist wie benommen. Die einzige Person, der er von Radek erzählt hat, ist seine Mutter. Und seine Mutter glaubt ihm nicht! Gibt es einen besseren Beweis, daß der andere recht hatte, daß es besser ist, den Mund zu halten und auf die versprochene Hilfe zu warten?
Wochen und Monate vergehen. In seiner Zelle wird Heurtin ständig von der Erinnerung an die zwei Leichen verfolgt, deren Blut er an seinen Händen kleben fühlte. Er bricht in der Nacht zusammen, da er hört, wie sie seinen Zellennachbarn zur Hinrichtung abholen.
Das bringt ihn um den letzten Rest von Widerstandskraft. Sein Vater hat auf seine Briefe nie geantwortet, hat seiner Mutter und seiner Schwester verboten, ihn zu besuchen. Er ist allein. Allein mit einem Alptraum …
Und da erhält er plötzlich eine Botschaft, die ihm seine Flucht ermöglicht. Er befolgt die Anweisungen, aber ohne große Hoffnung, ganz mechanisch. Er erreicht ungehindert Paris, irrt ziellos durch die Stadt, läßt sich erschöpft auf ein Bett fallen und schläft ein – seit langem zum erstenmal außerhalb des Hochsicherheitstrakts der Santé, wo nur Menschen schlafen, die die Guillotine erwartet.
Am nächsten Abend sieht er sich Inspektor Dufour gegenüber. Heurtin wittert Polizei, Gefahr, und instinktiv schlägt er zu, flieht, beginnt von neuem umherzuirren … Die Freiheit verschafft ihm keinerlei Hochgefühle. Er weiß nicht, wie es weitergehen soll. Er hat kein Geld. Niemand wartet auf ihn.
Und das alles wegen Radek! Er sucht ihn in den Cafés, wo er ihm früher manchmal begegnet ist.
Um ihn zu töten? Er besitzt keine Waffe. Aber in seinem überreizten Zustand könnte er ihn erwürgen … Vielleicht will er auch bloß Geld von ihm. Oder er hat ganz einfach das Bedürfnis, mit einem Menschen zu sprechen, und Radek ist der einzige Mensch, mit dem er jetzt noch sprechen kann …
Er erblickt ihn im ›Coupole‹. Man läßt ihn nicht hinein. Er wartet. Er dreht vor der Bar eine Runde nach der anderen, stur und stumpf wie ein Dorftrottel, drückt hin und wieder das bleiche Gesicht an die Scheibe.
Radek tritt schließlich ins Freie, aber zwischen zwei Polizisten, und Heurtin verschwindet. Ohne noch lange zu überlegen, macht er sich auf den Weg nach Hause, nach Nandy, wo er sich doch eigentlich nicht mehr sehen lassen darf … Er sinkt auf einen Strohhaufen in einem Schuppen …
Und da sein Vater ihm befiehlt, noch vor Einbruch der Nacht zu verschwinden, versucht er sich aufzuhängen …«
Maigret zuckte die Achseln und fuhr grollend fort:
»Der Junge wird nie wieder ganz zu sich kommen. Er wird zwar leben, aber er wird so etwas wie einen unheilbaren Riß davontragen … Er ist das bemitleidenswerteste unter Radeks Opfern.
Es gibt noch andere … Und es wären ihrer noch mehr geworden, wenn …
Doch darauf komme ich noch zu sprechen … Nach vollbrachter Tat und nach Heurtins Verhaftung nimmt der Tscheche sein Wanderleben von Café zu Café wieder auf. Er könnte jetzt seine hunderttausend Franc von Crosby fordern, tut es aber nicht. Zum einen wäre dies unvorsichtig, zum anderen ist ihm seine Armut vielleicht zum Bedürfnis geworden, weil sie seinen Haß auf die Menschheit nährt …
Im ›Coupole‹ kann er beobachten, wie der einst so strahlende Amerikaner sich manchmal zum Lachen zwingen muß. Crosby wartet … Er hat den Mann, der ihm den Zettel schrieb, nie gesehen. Er ist von Heurtins Schuld überzeugt. Er hat Angst, Heurtin werde ihn verraten …
Doch nein! Der Angeklagte läßt sich verurteilen. Man spricht bereits von seiner bevorstehenden Hinrichtung, und dann endlich wird Madame Hendersons Erbe wieder frei atmen können …
Was mag nun in Radek vorgehen? Er hat sein schönes Verbrechen begangen! Alles ist bis ins kleinste geregelt. Niemand verdächtigt ihn!
Er hat erreicht, was er wollte: Er ist der einzige Mensch auf der Welt, der die Wahrheit weiß. Und wenn er William und Ellen Crosby an der Bar sitzen sieht, weidet er sich an dem Gedanken, daß er sie mit einem Wort zum Zittern bringen könnte …
Dennoch ist er nicht restlos befriedigt. Sein Leben verläuft so eintönig wie zuvor. Nichts hat sich geändert, außer daß zwei Frauen tot sind und daß ein armer Teufel
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