Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
einem ahnungslosen jungen Mann voll Schadenfreude:
›Noch ehe drei Jahre um sind, landest du im Sanatorium!‹
Oder:
›Nicht wahr, dein Vater ist an Krebs gestorben? Da heißt es aufpassen!‹
Er stellte unerhört sichere Diagnosen, und zwar in körperlicher wie in seelischer Hinsicht.
Sie waren seine einzige Zerstreuung, wenn er in seiner Ecke im ›Coupole‹ saß. Krank, wie er war, lauerte er auf das kleinste Anzeichen von Krankheit bei den anderen …
Crosby bewegte sich täglich in seinem Blickfeld, da er in der gleichen Bar verkehrte. Radek hat mir ein ausgesprochen ergreifendes, zutreffendes Bild von ihm gezeichnet.
Dort, wo ich, ehrlich gesagt, nur ein Herrensöhnchen, einen mittelmäßigen Playboy sah, hat er, Radek, den Riß gesehen …
Er hat mir einen kerngesunden, von den Frauen geliebten, lebenslustigen Crosby beschrieben, aber auch einen Crosby, der jeder Gemeinheit fähig war, wenn es galt, seine Wünsche zu befriedigen.
Einen Crosby, der seine eigene Frau ein ganzes Jahr lang in intimster Freundschaft mit seiner Geliebten, Edna Reichberg, verkehren ließ, obgleich er wußte, daß er sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit von ihr scheiden lassen und die Schwedin heiraten würde …
Einen Crosby schließlich, der eines Abends, als die beiden Frauen ohne ihn ins Theater gegangen waren, etwas wie Angst in seinem Gesicht erkennen ließ.
Er saß an einem Tisch im hinteren Teil der Bar mit zweien seiner zahlreichen Freunde. Mit einem Seufzer bemerkte er:
›Wenn ich denke, daß erst gestern irgendein Idiot wegen zweiundzwanzig Franc eine alte Krämerin ermordet hat …! Mensch, ich gäbe hunderttausend Franc dafür, meine Tante loszuwerden!‹
Leeres Gerede? Oder ein Witz? Oder ein Wunschtraum?
Radek hatte es gehört, und er haßte Crosby, haßte ihn mehr als alle anderen, mit denen er tagtäglich in Berührung kam, weil Crosby der ganzen Gesellschaft himmelweit überlegen war.
Der Tscheche kannte Crosby besser als Crosby sich selbst, und dabei hatte ihn der junge Mann noch nie auch nur eines Blickes gewürdigt.
Er ist aufgestanden. In der Toilette hat er auf einen Papierfetzen gekritzelt:
›Einverstanden mit den hunderttausend Francs. Senden Sie den Schlüssel postlagernd an die Initialen M. V. Postamt Boulevard Raspail.‹
Er ist an seinen Platz zurückgekehrt. Ein Kellner hat Crosby den Zettel überbracht. Der hat spöttisch gelacht und seine Unterhaltung fortgesetzt, dabei aber verstohlen die Gäste an den Nachbartischen gemustert.
Eine Viertelstunde später verlangte Madame Hendersons Neffe die Pokerwürfel.
›Spielst du gegen dich selbst?‹ fragte er lachend einer seiner Begleiter.
›Es ist nur so eine Idee … Ich möchte wissen, ob ich auf Anhieb mindestens zwei Einsen würfle.‹
›Und wenn?‹
›Dann heißt das: ja ‹ .
› Ja wozu?‹
›Eine Idee, sag ich … Laß mich machen.‹
Er schüttelte lange die Würfel im Becher, warf sie mit unsicherer Hand auf den Tisch.
›Vier Einsen!‹
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, verabschiedete sich mit gespielter Munterkeit und ging. Am Abend danach erhielt Radek den Schlüssel.«
Maigret ließ sich endlich auf einen Stuhl fallen, rittlings, wie es seine Gewohnheit war.
»Diese Pokergeschichte hat mir Radek selbst erzählt. Ich bin überzeugt, daß sie wahr ist. Ich hab Janvier ins ›Coupole‹ geschickt, und er wird sie mir im Lauf der nächsten Stunden bestätigen. Alles andere – was ich Ihnen jetzt erzählen werde und was ich Ihnen schon erzählt habe – hab ich mir nach und nach zusammengereimt, Stück für Stück, je nachdem, welche neuen Anhaltspunkte mir der Tscheche unwissentlich lieferte, während ich ihn verfolgte …
Sie müssen sich jetzt Radek im Besitz des Schlüssels vorstellen … Einen Mann, dem es weniger um die hunderttausend Franc als um eine Gelegenheit geht, seinen Haß auf die Menschen abzureagieren.
Jetzt hat er den von aller Welt bewunderten und beneideten Crosby in der Hand. Er hält ihn fest! Er ist stark!
Bedenken Sie, daß Radek vom Leben nichts mehr zu erwarten hat … Er ist nicht einmal sicher, ob er warten kann, bis die Krankheit ihn hinwegrafft. Vielleicht wird er auch eines Abends, wenn er die paar Sous für seinen Café crème nicht mehr aufbringen kann, in die Seine springen …
Er ist nichts wert. Mit der Welt verbindet ihn nichts mehr!
Wie gesagt, noch vor zwanzig Jahren wäre aus ihm ein Anarchist geworden. Heutzutage, in einer so hektischen und
Weitere Kostenlose Bücher