Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
ich von einer Überraschung in die andere, lasse mich noch und noch von ihm verwirren …
Seine innere Haltung entzieht sich allen unseren gewohnten Vorstellungen. Und das ist der Grund, weshalb wir ihn nie verdächtigt hätten, wenn er nicht selbst das unbestimmte Bedürfnis gehabt hätte, sich erwischen zu lassen.
Er selbst hat mir die Fingerzeige gegeben, die ich brauchte. Er muß irgendwie gespürt haben, daß er sich damit verriet … Aber er tat es trotzdem …
Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß er in diesem Augenblick vor allem Erleichterung empfindet?«
Maigret sprach nicht besonders laut. Aber es war eine geballte Kraft in ihm, die seinen Worten eine eigenartige Intensität verlieh. Man hörte das Kommen und Gehen in den Korridoren des Gerichtsgebäudes. Dann und wann rief ein Gerichtsdiener einen Namen, oder Polizisten ließen ihre Stiefel auf den Fliesen dröhnen.
»Ein Mann hat gemordet, und zwar aus keinem bestimmten Grund, sondern einfach um des Mordens willen … Ich möchte fast sagen, zum Vergnügen! … Widersprechen Sie nicht! Sie werden ihn selbst sehen … Ich glaube nicht, daß er viel reden oder auch nur auf Ihre Fragen antworten wird, denn er hat mir erklärt, er wünsche sich nur noch eines: seinen Frieden …
Unsere Informationen über ihn werden Ihnen vollauf genügen.
Seine Mutter arbeitete als Dienstmädchen in einer tschechischen Kleinstadt. Er wuchs in einer Mietskaserne am Stadtrand auf. Und studieren konnte er nur mit Hilfe von Stipendien und gelegentlichen Zuwendungen.
Ich bin sicher, er hat schon als Kind unter seiner Armut gelitten und die Welt, die er nur von unten sah, zu hassen begonnen.
Schon als Kind hielt er sich für ein Genie … Durch seine Intelligenz reich und berühmt werden, das war sein Traum. Dieser Traum hat ihn nach Paris geführt. Um dieses Traumes willen hat er zugelassen, daß seine Mutter noch mit fünfundsechzig Jahren und trotz eines schweren Rückenmarkleidens als Dienstmädchen schuftete, um ihm Geld schicken zu können.
Ein maßloser, verzehrender Stolz beherrschte ihn. Ein Stolz, gepaart mit Ungeduld, denn als Medizinstudent wußte Radek, daß er an der gleichen Krankheit litt wie seine Mutter und daß er nicht lange zu leben hatte …
Zu Beginn arbeitet er wie ein Wilder. Seine Professoren halten ihn für erstaunlich begabt.
Er verkehrt mit niemandem, spricht mit niemandem. Er ist arm, aber Armut ist er gewohnt.
Oft besucht er die Vorlesungen ohne Socken an den Füßen. Hin und wieder verlädt er Gemüse in den Markthallen, um sich ein paar Sous zu verdienen …
Doch dann kommt es zur Katastrophe. Seine Mutter stirbt. Er erhält keinen Centime mehr.
Und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, gibt er alle seine Träume auf. Er hätte wie viele andere Studenten versuchen können, irgendwo Arbeit zu finden.
Er versucht es nicht einmal. Weil er ahnt, daß er nicht das Genie ist, das er zu sein hoffte? Weil er an sich zweifelt?
Wie auch immer, er tut nichts mehr. Konsequent nichts! Er hockt in den Brasserien herum. Er schreibt an entfernte Verwandte, geht sie um finanzielle Unterstützung an. Er bezieht Gelder von privaten Fürsorgestellen. Er pumpt Landsleute an und betont auch noch zynisch, daß er sich zu keinerlei Dankbarkeit verpflichtet fühlt.
Die Welt hat ihn nicht verstanden! Er haßt sie dafür!
Und diesen Haß hegt und pflegt er nun von früh bis spät. Am Montparnasse sitzt er Seite an Seite mit glücklichen, reichen, gesunden Menschen. Er trinkt seinen Café crème, während an den Nebentischen ganze Ladungen von Cocktails vorbeidefilieren …
Denkt er da schon an ein Verbrechen? Mag sein. Zwanzig Jahre früher wäre er ein militanter Anarchist geworden und hätte eines Tages eine Bombe in irgendeiner Großstadt gezündet. Aber diese Dinge sind heutzutage aus der Mode gekommen.
Er ist allein. Er will allein bleiben. Er verbohrt sich in seinen Haß. Er schöpft eine perverse Befriedigung aus seiner Einsamkeit, seiner vermeintlichen Überlegenheit und der Ungerechtigkeit, mit der das Schicksal ihn behandelt.
Er besitzt eine überdurchschnittliche Intelligenz, vor allem aber einen sicheren Instinkt für menschliche Schwächen.
Einer seiner Professoren hat mir von einer Manie erzählt, die er schon an der Hochschule hatte und die jedermann als unheimlich empfand. Er brauchte einen Menschen nur ein paar Minuten lang zu beobachten, um dessen wunden Punkt buchstäblich zu spüren.
So erklärte er zum Beispiel
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