Maigret und das Schattenspiel
Eingebung finden.
»Erlauben Sie mir eine Frage, Monsieur Martin? Seit wann kennen Sie Roger Couchet?«
Das war keine Angst mehr, das war Bestürzung.
»Ich?«
»Ja, Sie!«
»Nun … seit … seit meiner Heirat!«
Er sagte das, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
»Ich verstehe nicht!«
»Roger ist mein Stiefsohn, der Sohn meiner Frau …«
»Und von Raymond Couchet?«
»Ja doch. Schließlich …«
Allmählich faßte er sich wieder.
»Meine Frau war die erste Frau von Couchet. Sie hatte einen Sohn, Roger. Als sie sich scheiden ließ, habe ich sie geheiratet …«
Das wirkte wie ein Sturm, der die Wolken vom Himmel vertreibt. Das Haus an der Place des Vosges bekam ein ganz anderes Gesicht, und die Ereignisse erschienen in einer völlig veränderten Perspektive. Vieles wurde plötzlich klarer, anderes hingegen noch verworrener, noch beunruhigender. So sehr, daß Maigret eine Zeitlang gar nichts mehr sagte. Er mußte erst einmal Ordnung in seine Gedanken bringen. Er betrachtete die beiden Männer abwechselnd mit wachsender Unruhe.
Noch in der Nacht hatte die Concierge ihn gefragt, als sie vom Hof aus nacheinander alle Fenster betrachtete:
»Glauben Sie, daß es jemand aus dem Haus war?«
Und ihr Blick war schließlich an der Toreinfahrt hängengeblieben. Sie hoffte, daß der Mörder von dort gekommen war, daß es jemand von draußen war.
Aber so war es nicht! Das Drama hatte seinen Ursprung im Hause selbst! Maigret hätte nicht erklären können, warum, aber er war sich dessen sicher.
Welches Drama? Davon wußte er noch nichts.
Er fühlte nur, daß sich ein Netz unsichtbarer Fäden spannte, das ganz verschiedene Punkte miteinander verband und das von der Place des Vosges bis zu diesem Hotel in der Rue Pigalle reichte, von der Wohnung der Familie Martin zum Büro der Firma Dr. Rivières Seren, von Nines Zimmer zu dem des Pärchens, das sich mit Äther berauschte.
Das verwirrendste daran war, Monsieur Martin wie eine willenlose Wetterfahne in diesem Labyrinth herumflattern zu sehen. Er hatte wie immer Handschuhe an. Allein sein hellgrauer Mantel war wie das Kennzeichen eines ehrbaren und geordneten Lebens. Und sein unruhiger Blick suchte nach einem Halt, ohne ihn zu finden.
»Ich bin gekommen, um Roger zu benachrichtigen, daß …«
»Ich weiß!«
Maigret sah ihm in die Augen, ruhig und tief, und er hatte einen Augenblick das Gefühl, daß sein Gesprächspartner vor Angst schrumpfte.
»Wissen Sie, meine Frau hat mir noch gesagt, es wäre besser, wenn wir es ihm …«
»Ich verstehe!«
»Roger ist nämlich sehr …«
»Sensibel!« ergänzte Maigret. »Ein sehr empfindsamer Junge!«
Der junge Mann, der schon sein drittes Glas Wasser trank, warf ihm einen wütenden Blick zu. Er mußte ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein, aber seine Gesichtszüge waren schon müde, seine Lider welk.
Aber er hatte immer noch ein gewisses Etwas, das auf manche Frauen wirkte. Seine Haut war matt. Und sogar der Überdruß und der Ekel, den er zur Schau trug, umgab ihn mit einem Hauch Romantik.
»Sagen Sie, Roger Couchet, haben Sie Ihren Vater oft besucht?«
»Manchmal.«
»Wo?«
Maigret sah ihn streng an.
»In seinem Büro. Oder im Restaurant …«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Ich weiß nicht … Vor ein paar Wochen …«
»Und Sie haben Geld von ihm verlangt?«
»Wie immer!«
»Sie lebten also mehr oder weniger auf seine Kosten?«
»Er war reich genug, um …«
»Einen Moment! Wo waren Sie gestern abend um acht?«
Er zögerte keinen Augenblick.
»Im Select!« sagte er mit einem ironischen Lächeln, als wollte er sagen:
»Wenn Sie glauben, ich wüßte nicht, worauf Sie hinauswollen!«
»Was haben Sie im Select gemacht?«
»Ich habe auf meinen Vater gewartet!«
»Sie brauchten also Geld. Und Sie wußten, daß er ins Select kommen würde …«
»Er war fast jeden Abend mit seinem Törtchen da! Außerdem hatte ich sie am Nachmittag mit ihm telefonieren hören … Man hört nämlich alles, was nebenan gesprochen wird …«
»Und als Sie merkten, daß Ihr Vater nicht kam, sind Sie da nicht auf den Gedanken gekommen, ihn in seinem Büro an der Place des Vosges aufzusuchen?«
»Nein!«
Maigret nahm eine Fotografie des jungen Mannes vom Kaminsims, die dort inmitten zahlreicher Frauenporträts stand. Er steckte sie in die Tasche und knurrte:
»Sie erlauben?«
»Wenn es Ihnen Spaß macht!«
»Sie glauben doch nicht etwa …« begann Monsieur Martin.
»Ich
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