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Maigret und das Schattenspiel

Maigret und das Schattenspiel

Titel: Maigret und das Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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sah, fiel ihm ein, daß er auch noch nicht am Quai des Orfèvres vorbeigeschaut hatte und daß dort möglicherweise wichtige Post auf ihn wartete.
    Er rief sein Büro an.
    »Bist du es, Jean? … Nichts für mich? … Wie? … Eine Dame, die seit einer Stunde auf mich wartet? … In Trauer? … Madame Couchet wahrscheinlich! … Wie bitte? … Madame Martin? … Gut, ich komme!«
    Madame Martin trug Trauer ! Und sie wartete seit über einer Stunde im Präsidium in seinem Vorzimmer auf ihn!
    Maigret kannte sie bisher nur als Schatten: den grotesken Schatten vom Vorabend, hinter dem Vorhang im zweiten Stock, als sie gestikulierte und ihre Lippen sich bewegten, um ihrem Mann eine Gardinenpredigt zu halten.
    »Das passiert öfters!« hatte die Concierge gesagt.
    Und der arme Schlucker von der Registerbehörde, der seinen Handschuh vergessen hatte, war allein hinausgegangen, um an den dunklen Kais entlang spazierenzugehen …
    Und als Maigret den Hof gegen ein Uhr nachts verließ, hatte er etwas gegen eine Fensterscheibe stoßen hören …
    Maigret stieg langsam die staubigen Stufen im Polizeipräsidium hinauf, begrüßte im Vorbeigehen einige Kollegen mit Handschlag und steckte seinen Kopf durch die halbgeöffnete Tür des Vorzimmers.
    Zehn Sessel mit grünem Veloursbezug. Eine Art Billardtisch. An der Wand die Ehrentafel: zweihundert Porträts von Inspektoren, die im Dienst umgekommen waren.
    Im mittleren Sessel eine Frau in Schwarz, sehr steif; mit der einen Hand hielt sie ein Handtäschchen mit einem silbernen Bügel, die andere ruhte auf dem Knauf eines Regenschirms.
    Dünne Lippen. Ein starr nach vorn gerichteter Blick.
    Sie zuckte nicht mit der Wimper, als sie merkte, daß sie beobachtet wurde.
    Sie wartete mit unbeweglichem Gesicht.
    4
    Das Fenster im zweiten Stock
    S
    ie ging Maigret voran mit der aggressiven Würde derer, für die es nichts Schlimmeres gibt, als nicht ernst genommen zu werden.
    »Bitte nehmen Sie Platz, Madame!«
    Es war ein schwerfälliger, gutmütiger Maigret mit ein wenig verträumten Augen, der sie empfing und ihr einen Stuhl anbot, den das fahle Rechteck des Fensters gut ausleuchtete. Sie ließ sich dort in genau derselben Haltung nieder, die sie auch schon im Vorzimmer eingenommen hatte.
    Eine würdevolle Pose, gewiß. Aber zugleich auch eine Kampfhaltung! Die Schultern berührten die Lehne nicht. Und ihre Hand in dem Handschuh aus schwarzem Garn war bereit zu gestikulieren, ohne das Täschchen loszulassen, das dabei in der Luft pendeln würde.
    »Sie fragen sich gewiß, Herr Kommissar, warum ich …«
    »Nein.«
    Es war keine Bosheit Maigrets, sie auf diese Weise schon zu Beginn des Gesprächs aus dem Konzept zu bringen. Es war auch kein Zufall. Er wußte, daß es notwendig war.
    Er selbst saß in einem Bürosessel, lehnte sich in ziemlich ungehöriger Weise zurück und schmauchte genüßlich seine Pfeife.
    Madame Martin fuhr auf; genauer gesagt: ihre Haltung versteifte sich noch mehr.
    »Was wollen Sie damit sagen? Ich nehme an, Sie hatten nicht erwartet, daß …«
    »Doch!«
    Und er lächelte ihr gutmütig zu. Plötzlich fühlten die Finger sich in den Handschuhen aus schwarzem Garn unbehaglich. Madame Martins stechender Blick wanderte kurz im Zimmer umher. Dann hatte sie eine Eingebung.
    »Sie haben also einen anonymen Brief erhalten?«
    Sie bemühte sich, ihre Frage wie eine Feststellung vorzubringen, so, als sei sie ihrer Sache ganz sicher, und das brachte den Kommissar dazu, noch breiter zu lächeln, denn auch dieses Verhalten erschien ihm charakteristisch und stand mit alledem im Einklang, was er bereits von seiner Gesprächspartnerin wußte.
    »Ich habe keinen anonymen Brief bekommen …«
    Sie schüttelte skeptisch den Kopf.
    »Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, daß …«
    Sie sah aus wie einem Familienalbum entstiegen. Ihr Äußeres hätte kaum besser zu dem Registerbeamten passen können, den sie geheiratet hatte.
    Man konnte sich mühelos vorstellen, wie die beiden am Sonntagnachmittag zum Beispiel die Champs Elysées hinaufgingen: Madame Martins unsteter, schwarz gekleideter Rücken, ihr Hut, der wegen ihres Haarknotens immer schief saß, der eilige Schritt einer energischen Frau und die Bewegung des Kinns, mit denen sie ihre kategorischen Äußerungen unterstrich … Und der hellgraue Mantel von Monsieur Martin, seine Schweinslederhandschuhe, sein Spazierstock, sein gemessener, friedfertiger Gang, seine Versuche, herumzuschlendern und vor den Schaufenstern

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