Maigret und das Schattenspiel
…«
»Und da haben Sie geschossen?«
»Er hatte schon den Hörer abgenommen, um die Polizei anzurufen!«
»Dann gingen Sie zu den Müllkästen. Unter dem Vorwand, dort einen kleinen Löffel zu suchen, verscharrten Sie den Revolver im Abfall … Wem begegneten Sie dabei?«
Sie platzte heraus:
»Dem alten Spinner aus der ersten Etage …«
»Sonst niemandem? Ich hatte geglaubt, Ihr Sohn wäre gekommen … Er hatte kein Geld mehr …«
»Na und?«
»Er wollte nicht zu Ihnen, sondern zu seinem Vater, nicht wahr? Aber Sie konnten ihn nicht hingehen lassen, weil er sonst die Leiche entdeckt hätte … So standen Sie beide im Hof … Was haben Sie Roger gesagt?«
»Daß er weggehen soll … Sie können nicht verstehen, was eine Mutter empfindet …«
»Und er ging fort. Ihr Mann kam zurück. Worte waren überflüssig. So war es doch? Martin dachte an die Geldscheine, die er schließlich in die Seine geworfen hatte, denn er ist im Grunde ein biederer armer Teufel …«
»Biederer armer Teufel!« wiederholte Madame Martin mit unerwarteter Heftigkeit. »Ha! Und ich? Ich, die ich mein ganzes Leben lang unglücklich war …«
»Martin weiß nicht, wer Couchet getötet hat. Er geht zu Bett. Ein ganzer Tag vergeht, ohne daß Sie sich aussprechen. Aber in der folgenden Nacht stehen Sie auf, um die Sachen zu durchsuchen, die er ausgezogen hat. Sie suchen die Geldscheine, aber vergeblich … Er sieht Ihnen zu … Sie fragen ihn … Und das ist der Wutausbruch, den die alte Mathilde hinter der Tür mitbekommen hat: Sie haben umsonst getötet! Dieser Trottel hat die Geldscheine fortgeworfen! Ein Vermögen in der Seine, nur weil Martin es mit der Angst bekommen hat … Das macht Sie krank. Sie bekommen Fieber. Martin weiß nicht, daß Sie der Mörder Couchets sind, und sucht Roger auf, um ihm die Nachricht zu überbringen …
Und Roger begreift. Er hat Sie im Hof gesehen. Sie haben ihn daran gehindert, weiterzugehen. Er kennt Sie …
Er glaubt, daß ich ihn verdächtige. Er malt sich seine Verhaftung aus, die Anklage. Und er kann sich nicht verteidigen, ohne seine Mutter zu beschuldigen …
Er ist vielleicht nicht gerade ein sympathischer Junge. Aber für das Leben, das er führt, lassen sich gewiß manche Entschuldigungen finden. Er ist angewidert. Angewidert von den Frauen, mit denen er schläft, von den Drogen, vom Montmartre, auf dem er sich herumtreibt, und vor allem von diesem Familiendrama, dessen Hintergrund er allein durchschaut …
Er springt aus dem Fenster!«
Martin lehnte vornübergeneigt an der Wand und preßte das Gesicht in die verschränkten Arme. Aber seine Frau starrte den Kommissar an, als wartete sie nur auf den rechten Augenblick, seinen Monolog zu unterbrechen und ihrerseits zum Angriff überzugehen.
Maigret hielt noch einmal das Schreiben der beiden Anwälte hoch.
»Bei meinem letzten Besuch ist Martin so verängstigt, daß er seinen Diebstahl gestehen will … Aber Sie sind da. Er sieht Sie durch die halboffene Tür. Sie geben ihm energisch Zeichen, und er schweigt …
Das ist es doch, was ihm schließlich die Augen öffnet, nicht wahr? Er fragt Sie … Ja, Sie haben gemordet! Sie schreien es ihm ins Gesicht! Sie haben seinetwegen gemordet, um seine Dusseligkeit wettzumachen, gemordet wegen dieses Handschuhs, der auf dem Schreibtisch liegengeblieben war! Und weil Sie gemordet haben, werden Sie nicht einmal etwas erben, trotz des Testaments! Ach! Wenn Martin wenigstens Manns genug wäre! …
Er soll ins Ausland fliehen. Man würde ihn für den Schuldigen halten. Die Polizei würde Sie in Ruhe lassen, und Sie würden später mit den Millionen nachkommen …
Gute Reise, armer Martin!«
Beinahe hätte er den guten Mann erschlagen, so fest hieb Maigret ihm seine Pranke auf die Schulter. Er sprach mit gedämpfter Stimme, bedächtig, ohne seine Worte zu dramatisieren.
»So viel für dieses Geld durchgemacht zu haben! Der Tod Couchets … Roger, der sich aus dem Fenster stürzt … Um dann in letzter Minute festzustellen, daß Sie es doch nicht bekommen werden! Sie lassen es sich nicht nehmen, selbst die Koffer für Martin zu packen … Sehr ordentlich gepackte Koffer … Wäsche für Monate …«
»Schweigen Sie!« flehte Martin.
Die Verrückte schrie. Maigret öffnete unvermittelt die Tür, und die alte Mathilde wäre fast vornübergefallen!
Sie nahm Reißaus, erschreckt durch den Tonfall des Kommissars, und zum ersten Mal zog sie ihre Wohnungstür richtig hinter sich ins Schloß und
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