Maigret und der Treidler der Providence
Treidler in Bedrängnis war.
»Ihre Stiefel. Schnell!«
Und indem er seine Worte durch eine entsprechende Geste unterstrich, brachte Maigret den Treidler dazu, sich auf ein Brett zu setzen, das an einer der Wände des Stalles entlanglief.
Erst jetzt wurde der Alte gefügig, und während er seinen Peiniger mit vorwurfsvollem Blick ansah, machte er sich daran, einen seiner Stiefel auszuziehen.
Er hatte keine Socken an, sondern mit Talg eingefettete Stofflappen, die um seine Füße und Knöchel gewickelt waren und mit der Haut eins zu sein schienen.
Die Lampe gab nur wenig Licht. Der Schiffer, der sein Manöver beendet hatte, kauerte sich auf dem Deck nieder, um zu sehen, was im Stall vor sich ging.
Während Jean brummig, mit gerunzelter Stirn und unwillig das zweite Bein hochhob, reinigte Maigret mit Stroh die Sohle des Stiefels, den er in der Hand hielt.
Dann nahm er das linke Pedal aus seiner Jackentasche und hielt es gegen die Sohle.
Es war ein seltsamer Anblick, wie dieser fassungslose Alte da saß und seine umwickelten Füße betrachtete. Seine Hose, die ursprünglich einem noch kleineren Mann gehört haben mußte oder gekürzt worden war, ging ihm nur bis zu den Waden.
Und die eingefetteten Stoffstreifen waren schwärzlich, schmutzverkrustet und mit Strohhalmen übersät.
Maigret stand dicht neben der Lampe und verglich das Pedal, von dem einige Zacken abgebrochen waren, mit den kaum sichtbaren Spuren auf dem Leder.
»Sie haben heute nacht in Pogny das Fahrrad des Schleusenwärters genommen!« beschuldigte er ihn langsam, ohne die beiden Gegenstände aus den Augen zu lassen. »Wo sind Sie damit hingefahren?«
»Heda! Die ›Providence‹! Vorwärts! Die ›Etourneau‹ verzichtet und bleibt heute nacht hier in diesem Abschnitt.«
Jean sah zu den Männern hinüber, die draußen herumliefen, und dann zum Kommissar.
»Sie können durchschleusen gehen!« sagte Maigret. »Hier! Ziehen Sie Ihre Stiefel an.«
Der Schiffer setzte schon den Bootshaken ein. Die Brüsselerin lief herbei.
»Jean. Die Pferde! Wenn wir diese Chance verpassen …«
Der Treidler hatte seine Beine in die Stiefel gleiten lassen, zog sich an Deck hoch und rief mit einem merkwürdigen Singsang:
»Ho! Hü! … Hü!«
Und die Pferde schnaubten und setzten sich in Bewegung, während Jean an Land sprang und schwerfällig hinter ihnen herstapfte, die Peitsche immer noch um den Hals.
»Ho! … Hü!«
Während ihr Mann sich gegen den Bootshaken stemmte, legte sich die Schiffersfrau mit ihrem ganzen Gewicht in das Steuerruder, um dem Lastkahn auszuweichen, der in umgekehrter Richtung herankam und von dem man nur undeutlich den abgerundeten Bug und den milchigen Fleck des Hecklichts erkennen konnte.
Die ungeduldige Stimme des Schleusenwärters rief:
»Was denn nun … Die ›Providence‹! Gibt das heute noch was?«
Sie glitt lautlos auf dem schwarzen Wasser dahin. Aber sie stieß dreimal gegen die Steinmauer, ehe sie sich in die Schleusenkammer hineinzwängte, deren ganze Breite sie einnahm.
8
Zimmer 10
Normalerweise öffnet man die vier Schieber einer Schleuse nur einen nach dem anderen, ganz allmählich, um zu vermeiden, daß das hereinstürzende Wasser die Haltetaue des Schiffes zerreißt.
Aber sechzig Schleppkähne warteten. Die Schiffer, die bald an der Reihe waren, halfen beim Durchschleusen, während der Schleusenwärter nur noch die Papiere abzuzeichnen hatte.
Maigret stand am Kai und hielt sein Fahrrad mit einer Hand, während seine Augen den Schatten folgten, die sich in der Dunkelheit zu schaffen machten. Die beiden Pferde waren von ganz allein fünfzig Meter hinter den Obertoren stehengeblieben. Jean bediente eine der Kurbeln.
Das Wasser schoß mit dem Getöse eines Wildbachs hinein. Man konnte es in den engen Zwischenräumen, die die ›Providence‹ freiließ, weiß aufschäumen sehen.
Plötzlich, als der Wasserfall am stärksten brauste, hörte man einen erstickten Schrei, dann einen dumpfen Schlag gegen den Bug des Lastkahns und schließlich ein aufgeregtes Durcheinander.
Der Kommissar ahnte das Drama mehr, als daß er es verstand. Der Treidler war nicht mehr an seinem Platz, auf dem Schleusentor. Und die anderen liefen auf den Mauern entlang. Von allen Seiten schrie man durcheinander.
Nur zwei Lampen beleuchteten die Szene: eine in der Mitte der Zugbrücke vor der Schleuse, die andere auf dem Kahn, der rasch höherstieg.
»Macht die Schieber zu!«
»Die Tore öffnen!«
Jemand rannte mit einem riesigen
Weitere Kostenlose Bücher